IM KOSMOS
: Mit Lunarenergie zur Weltraumkolonie

Im Weltall schlummern jene Kräfte und Ressourcen, durch die der Mensch seinem natürlichen Lebensraum entfliehen könnte. Mond- und Asteroidengestein ließen sich zum Bau riesiger Raumstationen preiswert nutzen. In den schwebenden Städten soll das Wirklichkeit werden, was auf der Erde offenbar nicht zu erhalten ist: ein regenerierbares Luft-, Wasser- und Nahrungssystem. Auch Energiesatelliten aus Monderzen wären zum Discount-Preis realisierbar. Naht der Anbruch des Lunarzeitalters?  ■ VON GREGG MARYNIAK

Die Kolonisierung des Weltraums – das bedeutet viel mehr als ein paar Elite-Gruppen von Astronauten in Forschungsstationen auf dem Mond oder anderen Planeten. Das Weltall selbst kann kolonisiert werden und der Erde das Äquivalent jener neuen Welt bieten, die Kolumbus im 15. Jahrhundert entdeckte. Weltraumkolonien können die saubere Energie liefern, wie sie die Menschheit im 21. Jahrhundert zum Überleben braucht. Zusätzlich können sie unserer Gattung neue Siedlungsgebiete und eine Erweiterung ihrer ökologischen Nische verschaffen. Wohnstätten im freien Raum können mit Materialien gebaut werden, die sich bereits im Raum befinden – wie Material vom Mond oder von Asteroiden.

Viele Menschen denken, wenn sie den Begriff Weltraumkolonie hören, an kuppelüberdachte Städte auf dem Mond oder der Oberfläche eines feindseligen Planeten. Seit September 1974 hat das Wort „Weltraumkolonie“ jedoch eine ganz andere Bedeutung. Die Ausgabe der Zeitschrift 'Physics Today' vom September 1974 enthielt unter dem Titel „Die Kolonisierung des Weltraums“ den Artikel eines Professors und Atomphysikers aus Princeton, Gerard K. O'Neill.

O'Neill (siehe auch das Interview mit ihm auf der vorhergehenden Seite) schlug vor, großangelegte Siedlungen im freien Raum statt auf Planetenoberflächen zu errichten. Die Konstruktion von Strukturen im freien Raum erlaubt es den Einwohnern, sich für eine bestimmte Schwerkraft frei zu entscheiden oder die Rotationsgeschwindigkeit ihrer Siedlung zu kontrollieren. O'Neill wies nach, daß Zylinder von bis zu 20 Meilen (32 Kilometer) Länge und vier Meilen (6,4 Kilometer) Durchmesser gebaut werden könnten, die unter angenehmen Bedingungen bis zu einer Million Menschen aufnehmen könnten, selbst wenn bei ihrem Bau nur relativ einfache Materialien wie Stahlkabel benutzt würden .

Die ersten Stationen wären sehr viel kleiner, nur für Hunderte oder Tausende Menschen angelegt. Jede Siedlung böte die Möglichkeit zur Landwirtschaft und verfügte über geschlossene Lebenserhaltungssysteme, so daß eine Kolonie nach ihrer Gründung für den weiteren Betrieb nur noch wenig Material von außerhalb bräuchte. Das Baumaterial für diese Siedlungen von der Erde zu holen, wäre offenbar nicht ökonomisch. Statt dessen schlug O'Neill die Benutzung von Materialien vor, die bereits im Raum vorhanden sind. Als erstes käme dafür die Oberfläche des Mondes in Frage. Dank der Apollo-Missionen und der sowjetischen Probensammlung wissen wir, daß die benötigten Elemente im Überfluß vorhanden sind. Weil der Mond keine Atmosphäre und nur ein Sechstel der Erdschwerkraft aufweist, könnte mit Hilfe eines elektromagnetischen Katapults (Massentreiber genannt) Rohmaterial an einen Sammelpunkt im Raum geschickt werden, ohne daß dadurch die Kosten des Transports durch Raketen mit chemischen Brennstoffen entstünden. Planeten wie Erde und Mars liegen auf dem Grund tiefer „Schwerkraftbrunnen“. Der größte Teil der Kosten der Raumfahrt entsteht aus der Notwendigkeit, aus diesen Brunnen auf das Niveau des freien Weltraums emporzusteigen. Im Vergleich dazu liegt der Mond in einer seichten „Schwerkraftmulde“, die einen billigen Zugang zum Weltraum gestattet.

Weltraumkolonien waren Gegenstand dreier NASA-Untersuchungen in den Jahren 1975, 1976 und 1977. Die Projekte befaßten sich mit Problemen geschlossener zyklischer Lebenserhaltungssysteme, des Strahlenschutzes, des Entwurfs und Baus von Siedlungen, ihrer Wirtschaftlichkeit und Logistik sowie des Bergbaus auf dem Mond und den Asteroiden. 1977 erschien O'Neills Buch über Weltraumkolonien The High Frontier.

Seit 1977 wurde der größte Teil der Forschung über Weltraumkolonien und verwandte Technologien vom nichtkommerziellen Space Studies Institute (SSI) in Princeton, New Jersey, durchgeführt. Das SSI betreibt Forschung und dient als Informationszentrum für Industrie, Regierung und die akademische Welt. Es hat technische Entwürfe von Weltraumkolonien entwickelt, um sie von Raumstationen zu unterscheiden. Grob gesagt hat eine Weltraumkolonie über drei wesentliche Merkmale zu vefügen. Erstens muß eine Kolonie ein geschlossenes ökologisches System aufweisen, das Luft, Wasser und Nahrung der Kolonisten wiederaufzubereiten vermag, wobei nur Spurenelemente von außen zuzuführen wären. Zweitens muß der Strahlenschutz ausreichend sein, so daß beliebig lange Aufenthaltszeiten möglich werden. Drittens muß die Station eine ausreichende künstliche Schwerkraft bieten, damit die Einwohner sich ständig dort aufhalten können, ohne durch den Verlust von Knochensubstanz oder andere schädliche Auswirkungen eines längeren Aufenthalts unter Mikroschwerkraft gefährdet zu werden.

Im Allgemeinen wissen wir eine ganze Menge darüber, wie der Strahlenschutz für eine Weltraumsiedlung beschaffen sein müßte. Das „Geheimnis“ liegt in ausreichender Masse, um die Energiepartikel, die gemeinhin als kosmische Strahlen bekannt sind, sowie die Sonnenstrahlung aufzuhalten. Zur Zeit befinden sich die Raumstationen wie Skylab, Saljut oder Mir auf so niedrigen Umlaufbahnen, daß das Magnetfeld der Erde beträchtlichen Schutz gewährt. Während der Apollo-Flüge zum Mond war es physikalisch unmöglich, ausreichend Schutzmasse zu bieten, so daß die Astronauten den kosmischen Strahlen nur zeitlich begrenzt ausgesetzt werden konnten. Wenn wir Mondmasse als Baumaterial und Treibstoff benutzen können, verfügen wir auch über Schlacke und andere „Abfallprodukte“, die als Strahlenbarriere genutzt werden können. Theoretisch lassen sich auch supraleitende Magnete benutzen, um ein künstliches Magnetfeld herzustellen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß ein solches System ebenso so zuverlässig wäre wie ein einfacher physikalischer Schild.

Wieviel Schwerkraft braucht der Mensch?

Seit Isaac Newton wußten Wissenschaftler, wie „künstliche Schwerkraft“ durch Rotation herzustellen sei. Für den Entwurf von Weltraumkolonien fehlt uns jedoch noch die Antwort auf eine grundlegende und wesentliche Frage: Wieviel Schwerkraft ist nötig, um die normalen menschlichen Funktionen im Weltraum aufrechtzuerhalten? Viele Wissenschaftler glauben, es gebe für normale physiologische Reaktionen ein Schwellenniveau der Schwerkraft. Zur Zeit fehlen uns einfach die Daten, um zu bestimmen, welche Schwerkraft erforderlich ist. 1986 empfahl die Nationale Weltraumkommission des Präsidenten dringend, eine Forschungsinstitution für variable Schwerkraft zu errichten, die uns mit den erforderlichen Daten versorgen könnte. Im Verlauf der NASA-Untersuchungen vermuteten Teilnehmer, zumindest in einigen Bereichen der Weltraumsiedlungen sei die normale Erdschwerkraft erforderlich. Kommen Menschen jedoch mit nur einem Sechstel der Erdschwerkraft oder noch weniger aus, könnte man in der unmittelbaren Zukunft aus Rohstoffen wie den leeren Außentanks der Raumfähren kleine Weltraumsiedlungen erbauen.

Da die Schätzungen der für die Erdbevölkerung erforderlichen Energiemenge gestiegen sind und die Furcht vor der potentiellen „Treibhaus“-Gefahr durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe anwächst, ist das Interesse am Konzept der solaren Energiesatelliten gewachsen. Untersuchungen von General Dynamics und dem Institut für Weltraumstudien führten zu dem Ergebnis, daß die solaren Energiesatelliten zum größten Teil aus Mondmaterial hergestellt werden können. Aus den Untersuchungen der SSI ergibt sich, daß die Kosten eines Energiesatelliten aus Mondmaterial nur 3 Prozent der Summe betragen, die für den gleichen Satelliten aus Erdmaterial aufgebracht werden müßte.

1988 führte die NASA Untersuchungen unter dem Titel „Mond-Energie-Wirtschaftsstudie“ zusammen mit Vertretern von Elektrizitätskonzernen und anderen Industriezweigen durch. Diese Studie empfahl eine weitere Beschäftigung mit solaren Energiesatelliten auf der Grundlage von Mondmaterial. 1991 veranstaltete die International Astronautical Federation bei einer Konferenz über solare Energiesatelliten ein Seminar; gefordert wurde ein energisches internationales Versuchsprogramm zur Nutzung der Weltraumressourcen für die Energieversorgung der Erde.

Wertvolle Bodenschätze von Asteroiden?

Obwohl uns die Zusammensetzung des Mondes und der Asteroiden im allgemeinen bekannt ist, beinhaltet die Erschließung des Weltraums als eine der wichtigsten Möglichkeiten die Suche nach Lagerstätten spezieller Ressourcen. Wissenschaftler haben zum Beispiel die Theorie aufgestellt, in den ständig verschatteten Regionen an den Polen des Mondes könne es Eis geben. Womöglich gibt es auch Asteroiden mit sehr wertvollen Rohstoffen, die einfacher zu erreichen sind als der Mond. Bodengestützte Suchprogramme und kleine Roboterexpeditionen zur Gewinnung von Proben könnten riesige neue Lagerstätten ausfindig machen, wodurch sich der Aufbruch der Menschen in den Weltraum beschleunigen könnte.

Heute wächst die Erkenntnis, daß alle Weltraumprogramme echte Ergebnisse für ihre Betreiber abwerfen müssen. Die Beschaffung sauberer Energie für die Erde und die Aussicht auf neue Gebiete zur Besiedlung und Erforschung können die Weltraumforschung und –entwicklung über das Stadium der sechziger Jahre hinausführen.

Gregg Maryniak ist Vizepräsident des Space Studies Institute in Princeton/New Jersey und Herausgeber der ZeitschriftSpace Power.