DER NEUE MENSCH
: Ein Mensch aus genormten Ersatzteilen

Lahme lernen laufen, Taube beginnen zu hören, Blinde sehen zum ersten Mal die Welt. Minichips, Mikrophone und Zuchthaut komplettieren den Menschen, machen den Körper funktionstüchtig. Prothesen schaffen nicht nur Erleichterung, sie kosten auch viel Geld. Lohnt sich der enorm hohe Preis für ein Kunstherz? Wie reagiert der Körper langfristig auf die unnatürlichen Substanzen?  ■ VON
ROBERT W. MANN

Der technische Fortschritt in der Medizin hat eine Reihe von Ersatzorganen für den menschlichen Körper hervorgebracht, die die Qualität des menschlichen Lebens sichern, erweitern oder beweisen. Diese Errungenschaften konnten aber bisher noch nicht alle Aspekte der biologischen Funktion nachahmen, für die diese Teile als Substitut dienen. Im letzten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts und zu Beginn des 21.Jahrhunderts ist allerdings ein engeres Zusammengehen von Biologie und Technik zu erwarten, das den Ersatz von Körperteilen und die Nachahmung von Körperfunktionen anstrebt. Aber ein echter Ersatz für natürliche biologische Funktionen ist eine phantastische Aufgabe und innerhalb der nächsten zwanzig bis dreißig Jahre wohl kaum zu erreichen.

Die „Körperersatzteile“ lassen sich in drei Hauptkategorien einteilen, die ihrer geschichtlichen Entwicklung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsprechen. Die erste Kategorie umfaßt völlig künstliche, d.h. nichtbiologische Geräte, die in den Körper eingepflanzt oder ihm hinzugefügt werden. Die zweite Kategorie umfaßt die gegenwärtigen Bemühungen um eine engere Verbindung von Körper und Ersatzorgan, bei der Körperfunktionen gebündelt werden, während die dritte Kategorie durch futuristische Vorstellungen geprägt ist, denen man sich skeptisch nähern muß.

„Prothese“ ist der Gattungsbegriff für ein Ersatzteil, das körperliche Mängel ausgleicht oder fehlende Glieder ersetzt. In jedem entwickelten Land benutzt mehr als die Hälfte der Bevölkerung Hilfsmittel wie Brillen oder Kontaktlinsen. Viele von ihnen haben überdies einen oder mehrere künstliche Zähne, also weitere Prothesen. Andere Prothesen sind künstliche Hände und Arme, mit denen man wieder bestimmte Handgriffe ausführen kann, und künstliche Beine, mit deren Hilfe Menschen, die eine Amputation erlitten haben, wieder gehen können.

Zur ersten Kategorie gehören auch noch technische Geräte im Inneren des Körpers, vor allem der Herzschrittmacher. Mikrochipgesteuerte elektronische Geräte ermöglichen neuerdings eine externe Programmierung des Schrittmachers; klinische Parameter und der Zustand der Batterie können aufgezeichnet und gesendet werden; und in den „physiologischen Herzschrittmachern“ wird der Körperzustand oder die Körpertemperatur gemessen, um automatisch die Stimulationsrate an die Körperaktivität des Subjektes anzupassen. Herzanfällen und plötzlichem Herzstillstand mit Todesfolge kann nun durch die Einpflanzung eines Herzrhythmusgerätes (Defibrillator) vorgebeugt werden, das das Herz durch Elektroschocks wieder in den richtigen Rhythmus bringt, wenn das Gerät unregelmäßige Herzschläge feststellt. Von diesen Geräten sind gegenwärtig etwa 20.000 Exemplare im Einsatz, die viele Leben gerettet haben.

Eine zweite Art von nachweisbar erfolgreichen und häufig benutzten technisch produzierten Körperteilen sind künstliche Gelenke. In den USA werden jährlich 100.000 Hüftgelenke und ebenso viele Kniegelenke eingesetzt, so daß dort gegenwärtig über eine Million Empfänger künstliche Hüftgelenke benutzen. Gerade diese große Zahl führt in den Kliniken in zunehmendem Maße zu der Erkenntnis, daß die gegenwärtigen Konstruktionen noch keine endgültige Lösung sind, da es bei Patienten unter 60 Jahren häufig zu „Gegenindikationen“ kommt. Da als häufigstes Symptom eine Lockerung des Acrylzements, der die Metallteile im Knochen hält, festgestellt wurde, verwendet man heute häufig Implantate, deren netzartige Oberfläche in den natürlichen Knochen einwachsen soll. Die Zeit wird zeigen, ob dieser Weg erfolgreicher ist. Bei der zweiten Kategorie von „Körperersatzteilen“ liegt der Schwerpunkt auf einer glaubwürdigeren Nachahmung der biologischen Funktion des benötigten Körperteils oder der Körperfunktion. Hier sind die wissenschaftlichen Fortschritte und die Demonstrationen des praktischen Gebrauchs erst jüngeren Datums oder stammen gar aus der Gegenwart.

Ein Beispiel ist das große Problem der Ersetzung von Hautteilen nach einer Verbrennung dritten Grades. Einige Methoden werden zur Zeit in Kliniken erfolgversprechend eingesetzt. Bei einer davon besteht die „Ersatzhaut“ aus biologischen und nichtbiologischen Komponenten, wobei die ersteren vom Körper assimiliert und die letzteren biologisch abgebaut werden. Bei einer anderen Methode „züchtet“ die Ersatzhaut in Form von Bakterienkulturen die vom Patienten entnommenen Zellen. Beide Methoden erzeugen kleine Blutgefäße und Kanäle, in denen Nerven wachsen.

Mit biologischen Komponenten werden Körperfunktionen nachgeahmt

Beispiele für eine engere Verbindung zum Nervensystem, die auf einem teilweisen Verständnis der zugrundeliegenden Physiologie beruhen, sind auch gehirnstimulierende Hörhilfen und die elektrische Aktivierung von gelähmten Muskeln. Während beim normalen Hören die Nervenzellen im Ohr durch Geräuschsignale mechanisch in Bewegung versetzt werden, werden dieselben Signale von einem Implantat in der Gehörschnecke mit einem Mikrophon aufgenommen und in elektrische Stimuli derselben Zellen verwandelt, so daß eine künstlich erzeugte Meldung an das Gehirn weitergeleitet wird. Obwohl diese Technik sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium befindet, sind mit ihrer Hilfe doch schon einige stocktaube Erwachsene nunmehr in der Lage, sich zu unterhalten. Überdies stellt man Überlegungen an, ob man dieses Gerät taub zur Welt gekommenen Kindern einpflanzen könnte, um ihnen beim Spracherwerb zu helfen. Die elektrische Reizung von Muskeln betrifft Nerven, die normalerweise Kommandos des Gehirns übermitteln, um Hände und Beine zu bewegen. Bei vielen jungen Leuten sind durch Unfälle oder Traumata die Rückenmarksverbindungen zwischen Gehirn und Muskel unterbrochen, so daß es zu doppelseitigen Lähmungen etwa beider Beine oder zur Lähmung beider Arme und Beine kommt. Die Idee der Reizung von Muskeln durch Elektrizität ist so alt wie Voltas Experimente mit dem Frosch im Jahre 1800. Aber erst in den letzten zehn Jahren sind ernsthafte Versuche zur Wiederbelebung und Koordination der vielen Muskeln eines Menschen gemacht worden, um die Beweglichkeit der Hände oder des ganzen Körpers wiederzuerlangen. Es muß noch viel darüber in Erfahrung gebracht werden, wie man Muskeln stimulieren kann, ohne eine Ermüdung hervorzurufen, wie man die Aktivitäten der vielen Muskeln koordinieren kann und wie eine natürliche Kontrolle der Muskeln zu erlangen ist, aber die Zukunftsaussichten sind sehr ermutigend.

Implantate in die Gehörschnecke und funktionale neuromuskulare Stimulatoren werden heute unter dem Begriff von neuronalen Prothesen zusammengefaßt, wobei erstere sensorische neuronale Prothesen sind und letztere motorische neuronale Prothesen. Die anspruchsvollsten und problematischsten Forschungen zur neuronalen Prothetik sind diejenigen, bei denen versucht wird, das Gehirngewebe direkt zu stimulieren. Ein zu früh bejubelter und tragischer Versuch zur Heilung von Bewegungsstörungen war die elektrische Stimulierung eines Gehirnteiles, das für alle geordneten Bewegungen zuständig ist, nämlich des Kleinhirns. Aggressive Gehirnchirurgie und energiegeladene Elektroden wurden eingesetzt, ohne nennenswerte funktionale Verbesserungen zu erreichen, und hinterließen schwere, irreparable Schäden am Gehirn.

Bei neueren Versuchen ging man wissenschaftlicher und vorsichtiger zu Werke, indem man sich auf solche Ziele wie die langfristige Körperverträglichkeit des Elektrodenmaterials konzentrierte, das mit dem Gehirn in Berührung kommt, und untersuchte, ob die elektrische Stimulierung des Gehirngewebes dazu führt, daß toxisches Metall von der Elektrode auf dem biologischen Gewebe abgelagert wird. Eines der langfristigen Ziele der Forschung zur neuronalen Prothetik ist die Heilung von völliger Blindheit. Die Lichtsignale (Photonen), die in das Auge eindringen, werden als elektrische Impulse von der Netzhaut über Nervenbahnen zum hinteren Teil des Gehirns übertragen, zur hinteren Gehirnrinde (cortex occipitalis). Frühe Versuche in den 60er und 70er Jahren haben gezeigt, daß eine lokale elektrische Reizung der Gehirnrindenoberfläche bei ansonsten völlig blinden Personen Lichtflecke (Phosphene) im Gesichtsfeld hervorrief.

Diese Experimente führten zur Idee einer großen Matrix von winzigen Stimulatoren auf und in dem Gehirn, die jeweils einem bestimmten Punkt im Gesichtsfeld der Person entsprechen sollten und die durch eine Videokamera aktiviert werden sollten. Die durch solche Mittel simulierte oder wiederhergestellte Sehfähigkeit muß mit dem langsamen und mühseligen Anwachsen der Kenntnisse verglichen werden, mit denen wir unser Hirn und unser Sehsystem normalerweise benutzen, um ganz automatisch den vollen Umfang an Farben, Bewegungen, Strukturen und Einzelheiten wahrzunehmen. Es kann sein, daß dieses „neuronale Sehsystem“ funktioniert, ohne daß man weiß wie, so wie die Stimulation des Knochenwachstums und die Reduzierung von unerträglichem Schmerz (manchmal) auch funktioniert, ohne daß wir es verstehen.

Langfristige Körperverträglichkeit steht heute im Vordergrund

Das Implantat, das am meisten Todesgefahr in sich birgt, ist sicherlich das künstliche Herz. Obwohl jährlich ungefähr 700.000 Amerikaner an Herzversagen sterben, ist zur Zeit das einzige langfristig wirkende Mittel bei Herzausfall eine Herztransplantation. Mehrere Jahrzehnte wurde die Einsetzung von künstlichen Herzen in Tierexperimenten erforscht, bis dann Mitte der 80er Jahre bei vier Menschen ein System eingepflanzt wurde, das durch von außen zugeführten Luftdruck in Gang gehalten wurde. Das Ergebnis war ein riesiger Pressewirbel und ein kurzes und anstrengendes Leben für die Empfänger.

Die derben Enttäuschungen dieser ersten Implantationen führten dazu, daß man heute eher nach Techniken zur Stärkung und Unterstützung und nicht nach einem Ersatz für das geschwächte Herz forscht. Obwohl ein VAD [Ventricular Assist Device; Gerät zur Ersetzung der Herzkammertätigkeit] schon seit 1969 benutzt wird, um den Patienten am Leben zu erhalten, solange er auf ein Spenderherz warten muß, wird der erste Versuch mit einer langfristigen Implantation eines VAD wohl erst im kommenden Jahr stattfinden. Eine neuere Studie, die von der amerikanischen Gesundheitsbehörde finanziert wurde, macht die optimistische Voraussage, daß die Implantation eines völlig künstlichen Herzens „Anfang des nächsten Jahrhunderts“ möglich sein wird.

Neben diesen technischen Schwierigkeiten gibt es grundlegende Probleme, was die Kosten und die Gleichbehandlung betrifft. Heutige Schätzungen für ein komplettes künstliches Herz sowie für die Krankenhaus- und Arztkosten einer Implantation liegen bei über 200.000 Dollar. Es gibt in den USA vielleicht 35.000 bis 70.000 Kandidaten pro Jahr, bei denen sich der Einsatz eines mechanischen Herzens langfristig lohnen würde. Die Gesamtkosten kann man sich leicht ausrechnen, sie liegen bei 15 Milliarden Dollar. Um einen Vergleich anzustellen, was die Kosten und die Gleichbehandlung betrifft, kann man die Nierenspülung, die Lebensrettung in frühem Alter und die zunehmende Benutzung von Technologie heranziehen. Als der Kongress der Vereinigten Staaten vorsichtig die Unterstützung des Steuerzahlers für diese Therapie gesetzlich festlegte, hat er weder Ausgaben von über einer Billion Dollar vorhergesehen noch sich darüber Gedanken gemacht, ob bei völlig zahlungsunfähigen und todkranken Patienten die Dialyse abgebrochen werden sollte.

Ob man sich nun für die Kosten oder für Lebensqualität entscheidet, wenn wir in die „Schöne neue Welt“ des 21.Jahrhunderts eintreten und die prothetischen Mittel zur Verlängerung des Lebens bekommen, werden sich die Fragen nach der Qualität der sich daraus ergebenden Lebensformen verstärken. Und überdies die Fragen danach, wie eine Gleichbehandlung bei der Zuweisung von immer begrenzten Ressourcen gewährleistet werden kann. Werden die, deren Leben durch diese Technologie gerettet werden kann, nach ihrer Rettung wieder ein ausgefülltes und sinnvolles Leben leben können? Technologie hat immer gesellschaftliche und ökonomische Folgen gehabt. Und diese Konsequenzen werden noch sichtbarer werden, wenn das menschliche Leben auf dem Spiel steht.

Robert W. Mann ist Professor für angewandte Biomedizin am Massachusetts Institute of Technology, Autor von über 300 Publikationen und Inhaber von vier Patenten.