DER NEUE MENSCH
: Von Mäusen und Menschen

Als erstes Tier hat das Europäische Patentamt in München die genmanipulierte „Onkomaus“ der Harvard-Universität patentiert – als Frühwarnsystem gegen Krebs. Wohin die Reise geht, machen uns die USA vor: Dort hat ein Biologe jetzt Patentschutz für 337 Gene beantragt, die er in menschlichen Gehirnzellen entdeckt hat.  ■ VON MANFRED KRIENER

Sie sind klein, aber zahlreich. So zahlreich, daß ihre Anzahl mühelos ersetzt, was ihnen an Größe fehlt. Sie besitzen eine spitze Schnauze, große schwarze Augen, breit gewölbte, aber spärlich behaarte Ohren, zierliche Beinchen und schmale, feine, fünfzehige Pfoten. Ihr Pelz ist kurz und weich, ihr Schwanz lang und meist nackt. Ihre Libido ist außerordentlich, entsprechend rasant vermehren sie sich, mit bis zu 20 Nachkommen pro Wurf. Sie gelten als vorsichtig, klug, frech, ja dreist, listig, überaus gesellig, durchaus anmutig, ein wenig zudringlich und ungeheuer verfressen. Manche Zeitgenossinnen kreischen bei ihrem Anblick oder fallen in Ohnmacht, andere flüstern in zärtlichen Stunden ihren Namen.

Es geht um die Maus und um das Mäuschen, um ein Tier, das in diesem Herbst Geschichte geschrieben hat. Als erstes Lebewesen soll ausgerechnet eine Maus vom Europäischen Patentamt (EPA) in München patentiert werden. Was Natur- und Umweltschützer seit Monaten als Alptraum der Moderne und Perversion des Forschergeistes beschworen haben, was niemand für möglich hielt, ist am 4. Oktober dieses Jahres Wirklichkeit geworden. Das EPA hat in Sachen Patentanmeldung Nummer 85.304.490.7 eine positive Entscheidung angekündigt. Anfang 1992, wenn Harvard die letzten Unterlagen beigeschafft hat, wird die neuentwickelte Mäuselinie der Eliteuniversität das Patent erhalten: ein Tier als Erfindung. Auch die vielen hundert Einsprüche, die in der dann folgenden neunmonatigen Frist auf die Münchener Behörde niederprasseln werden, können das Inkrafttreten des Patents nicht mehr verhindern. Die Proteste werden allerdings – davon ist EPA-Sprecher Rainer Osterwalder fest überzeugt – einen mehrjährigen Rechtsstreit auslösen, an dessen Ende die Bestätigung oder der Widerruf des Patents stehen werden.

Die Patentmaus hat mit der gemeinen Hausmaus, wie wir sie kennen, wenig gemein. Sie ist krank, genauer: erbkrank. Von den Genchirurgen der Harvard-Universität wurde ihre Erbsubstanz so manipuliert, daß das Tier besonders schnell an bösartigen Tumoren erkrankt. Zur Herstellung dieses Tieres wird den Mäuseeiern spätestens im Achtzellenstadium eine aktivierte sogenannte Onko-Gensequenz eingeschleust, heißt es in der Beschreibung des Verfahrens.

Die Tumorbildung bei Tier und Mensch ist von den Genen gesteuert, das dafür verantwortliche und zuerst bei Viren entdeckte „Krebsgen“ nennt man Onkogen (onkos = Geschwulst). Die Patentmaus heißt deswegen längst überall Onkomaus. Wegen ihrer erhöhten Neigung zur Tumorbildung soll die Onkomaus als Versuchstier in der Krebsforschung eingesetzt werden. Verdächtige Stoffe, Arzneien, Kosmetika, alle Arten von giftigen Chemikalien, die wir in immer größerer Zahl produzieren, können mit Hilfe des kleinen Nagers auf ihr krebsauslösendes Potential untersucht werden.

Als „Modell“ zur Erforschung von Krankheiten teilt die Onkomaus das Schicksal von inzwischen schon weit über tausend verschiedenen Mäuse- und Rattenlinien, die den Forschungslabors in langen Listen wie ein Warenhauskatalog angeboten werden. Sie heißen „MRL-IpR IpR“ oder tragen einfach nur eine lange Nummer. Jeder dieser Nager hat einen ganz speziellen Defekt, der entweder durch bewußt herbeigeführte Mutationen (etwa durch Bestrahlung) oder neuerdings durch direkte Genmanipulation erzielt wurde. In diesem Heer von kranken Nagern gibt es neben vielen anderen die zuckerkranke Maus, die haarlose Maus, die Rheumamaus, die Maus ohne T-Helferzellen, die Ratte mit Bluthochdruck und neuerdings in den USA sogar eine Alzheimer-Maus.

Ziel der Forschung ist es, sagt Prof. Lerscher vom Zentralinstitut für Versuchstierzucht in Hannover, für jede menschliche Krankheit ein entsprechendes Maus- oder Rattenmodell als Stellvertreter zur Verfügung zu haben. Mehr als eine Million dieser Nager werden in der Bundesrepublik jährlich in der Forschung verbraucht. Ohne sie ist Wissenschaft heutzutage nicht mehr vorstellbar. Eine regelrechte Mäuseindustrie mit staatlichen und privaten Anbietern züchtet die Tiere in strenger Inzucht (Bruder mit Schwester) und genetischer Reinheit und sorgt so für den Nachschub, zum Stückpreis zwischen 5 und 80 Mark.

Inzwischen liegen dem EPA in München neben diversen genmanipulierten Schafen, Kühen und Ziegen auch mehrere Mäuselinien zur Patentierung vor. Und es gibt bereits eine zweite Entscheidung: Bei einer sogenannten Haar-Maus, die über einen gentechnisch erzeugten, ungewöhnlich starken Haarwuchs verfügt, hat die Münchener Behörde das Patent vorerst verweigert. Die positive Entscheidung bei der Onko-Maus und die ablehnende bei der Haar-Maus zeigen die Münchener Patenthüter in einer völlig ungewohnten Rolle: Sie agieren als moralische Instanz. Da bei der Patentierung von Lebewesen die veralteten Paragraphen aus dem Jahre 1961 nicht mehr greifen, die Vorgaben der politischen Instanzen fehlen, muß das EPA „freihändig“ und mit abenteuerlichen Güterabwägungen operieren. Zum entscheidenden Kriterium für oder wider die Patentvergabe wird so das „Wohl der Menschheit“. Aber wer definiert das? Und schließt nicht gerade dieses Allgemeinwohl ein Patent auf Tiere grundsätzlich aus?

Im Paragraphen 53b des Europäischen Patentübereinkommens heißt es: „Europäische Patente werden nicht erteilt für Pflanzensorten oder Tierarten sowie für im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen und Tieren.“ Interpretiert man diesen Paragraphen mit dem gesunden Menschenverstand, kommt man zu der Einsicht, daß Tiere generell und damit auch die Onko- und die Haarmaus von einer Patentierung ausgeschlossen sind. Getreu dieser Logik hatte das EPA den Onkomaus-Herstellern vor zwei Jahren in ihrer Erstentscheidung auch eine Absage erteilt. Doch Harvard wollte sich damit nicht abfinden und erhob Beschwerde. Daraufhin mußte die hausinterne Gerichtsbarkeit des EPA entscheiden. Mit einem semantischen Salto mortale gelang es der Beschwerdekammer, den Paragraphen 53b neu zu interpretieren. Ausgeschlossen von einer Patentierung seien, so ihre juristische Logik, nur Tierarten. Wer also aus Schaf und Ziege die neue Tierart der Schiege konstruiert (wie 1985 in Japan geschehen), kann dieses Tier beim EPA nicht patentieren lassen. Die Onkomaus sei aber keine neue Tierart, sondern nur eine gentechnisch veränderte und als solche auch patentierbar. Ihre Herstellung sei zudem kein biologisches, sondern ein technisches Verfahren. Beispielsweise könnten die Onkomäuse auch ungeschlechtlich vermehrt, nämlich geklont werden.

Als zweites Hindernis zur Patentierung stand aber noch ein anderer Paragraph im Wege. Artikel 53a schließt nämlich sämtliche Erfindungen von einer Patentierung aus, die gegen die „guten Sitten“ verstoßen und die gegen die „öffentliche Ordnung“ gerichtet sind. Aber ist nicht die Patentierung eines Lebewesens, die Umwandlung eines Tieres zur Sache, der freie Handel mit der Erbsubstanz dieses Planeten und seiner Bewohner, die monopolartige Ausbeutung des gemeinsamen Erbes der Menschheit – ist dies alles kein Verstoß gegen die guten Sitten?

Nein, sagten die EPA-Juristen und umschifften auch diesen Paragraphen. Das abschließende Votum für die Patentierung der Onkomaus wird nun damit begründet, daß der Nutzen dieser Maus für die Erforschung von Krebs und damit der „Nutzen zum Schutz höherwertiger Interessen der Menschheit“ größer sei als die Gefahren und die ethischen Bedenken. Im Falle der Haarmaus konnte das Patentamt diesen Nutzen dagegen nicht erkennen. Mit Hilfe der Haarmaus sollte der Einfluß von Kosmetika und Chemikalien auf den Haarwuchs untersucht werden. Wegen des daraus folgenden nur „begrenzten Nutzens für die Menschheit“, so das EPA, wurde der Antrag auf Patentierung vorläufig abgelehnt.

Das EPA also „als Hüter der Moral“, das in jedem Einzelfall das Wohl der Menschheit definiert? Der Druck wächst. Immer lauter werden die Hinweise aus den Genlabors der pharmazeutischen und chemischen Industrie, daß Europa den Anschluß an Japan und die USA verliert, wenn die Patente für Lebewesen weiter blockiert würden. Schon liegen in München weitere 35 Anträge zur Patentierung genmanipulierter Tiere vor, und in den Genlabors wird fleißig an neuen „Erfindungen“ gearbeitet: am gripperesistenten Schwein, an der schnellwachsenden Forelle mit menschlichen Wachstumsgenen, am Superschaf, das in seinem Euter Arzneimittel produziert, an der Seidenraupe, die einen Impfstoff ausscheidet. Und in den USA, wo die Patentierung von Tieren schon seit 1987 praktiziert wird, hat ein Forscher jetzt erstmals den Patentschutz für menschliches Erbgut beantragt. Der Biologe Craig Venter vom Nationalinstitut für neurologische Krankheiten will für 337 Gene, die er in menschlichen Gehirnzellen entdeckt hat, ein Patent haben. Sein Antrag widerspricht allerdings der wichtigsten Anforderung: Patente können nur für Erfindungen erteilt werden, die auch wirklich neu sind. Die Menschheit und ihre Gene sind aber schon einige Jahrmillionen alt.

Manfred Kriener langjähriger taz-Redakteur, lebt heute als freier Journalist in Berlin. Seine Schwerpunkte: Wissenschaft und Ökologie