Eine Gattung mit beschränkter Einsicht

■ Carl Sagan, US-amerikanischer Raumfahrtwissenschaftler

Toshiki Kaifu: Bis jetzt waren Wissenschaft und Technologie von der Vorstellung geleitet, es gebe für sie keine Grenze. Diese Vorstellung ist heute erschüttert. In welche Richtung sollten sie sich nach Ihrer Meinung jetzt orientieren? Oder meinen Sie, daß es möglich ist, ihre Widersprüche zu überwinden und ihnen neue, unbegrenzte Entwicklungsperspektiven zu geben?

Carl Sagan: Die Wissenschaft ist weniger ein Vorrat an Wissen als vielmehr eine Art des Denkens, eine Kombination größter Offenheit für neue Ideen mit der skeptischsten und kritischsten Prüfung aller Ideen, seien sie alt oder neu. Das heikle Gleichgewicht zwischen diesen beiden gegensätzlichen Prinzipien erlaubt es uns manchmal, unsere Vorurteile zu überwinden und mindestens bis zu einem gewissen Grad die Natur so zu verstehen, wie sie wirklich ist. Auf diese Weise verwandeln wir die Welt. In diesem wichtigen, wenn auch beschränkten Sinne ist die Wissenschaft ein Werkzeug, das mächtigste Werkzeug, das jemals erfunden wurde. Unsere Weltzivilisation gründet sich auf dieses Werkzeug. Es hat niemals „unbegrenzte Entwicklungsperspektiven“ für Wissenschaft und Technologie gegeben. Wir sind eine Gattung mit beschränkten Ressourcen, beschränkter Einsicht und geringer Weisheit. Es besteht sogar eine Tradition, die unabwendbaren negativen Konsequenzen des Einsatzes von Technologie sehr spät zu entdecken. Daher ist die Vorstellung, wir könnten tun, was wir wollen, ohne irgendwann den Preis dafür zu bezahlen, kurzsichtig und gefährlich. Wichtiger als neue Produkte wäre – in sozialen, politischen und ökonomischen Fragen – die allgemeine Anerkennung der wissenschaftlichen Denkgewohnheiten, ihrer heiklen Mischung aus Offenheit und Skeptizismus. Die neuen Technologien sind heiß begehrt, aber die Methode des wissenschaftlichen Denkens und ihre Herausforderung für traditionelle Überzeugungen wird beunruhigenderweise und häufig aus opportunistischen Gründen ignoriert.

Abdou Diouf: In Afrika haben sich im Lauf der Jahrhunderte nützliche Kenntnisse angesammelt, die heute in der wissenschaftlichen Forschung und Technologie nicht genügend berücksichtigt werden. Wird es nicht endlich Zeit, ein großes multidisziplinäres Laboratorium zu errichten, in dem das wissenschaftliche Erbe Afrikas gesammelt und bewertet wird?

Carl Sagan: In vielen entwickelten und den meisten Entwicklungsländern ist das Ausbildungsniveau in Wissenschaft und Technologie sehr niedrig. Die Ausbildung kompetenter Wissenschaftler und Ingenieure liegt bei weitem nicht auf dem für schnellen lokalen Fortschritt erforderlichen Niveau, und der Öffentlichkeit mangelt es an Wissen, um ihre demokratischen Rechte einsichtig zu nutzen. Menschen beizubringen, selbst zu denken, liegt nicht im Interesse einer ganzen Schicht mächtiger Individuen und Institutionen – die nicht darauf erpicht sind, daß alternative Möglichkeiten ins Auge gefaßt oder ihre eigenen Überzeugungen in Frage gestellt werden. In der Konsequenz wird die Wissenschaft als subversiv behandelt, als notwendiges Übel, das sorgfältiger Kontrolle bedarf.

Die technologischen Früchte der Wissenschaft sind fast immer zuerst und weitgehend ausschließlich im Besitz der Machthaber, die die Forschung finanziert und unterstützt haben. In den Entwicklungsländern könnte diese Ausbildung durchaus die notwendige Vorbedingung für ökonomische Entwicklung sein, statt daß die Ausbildung auf die ökonomische Entwicklung zu warten hätte. Die Schlüsselfragen für die menschliche Gattung sind nicht technologischer, sondern sozialer, politischer und ökonomischer Natur: der ökonomische Status der Milliarden ärmster Menschen auf dem Planeten und die bezeichnende Tatsache, daß die Geburtenraten im selben Maße sinken, in dem das Pro-Kopf-Einkommen steigt; die unterprivilegierte Lage der Frauen; der Tod von zehn Millionen Säuglingen und Kindern in jedem Jahr an leicht zu verhindernden Krankheiten und an Hunger; der Einfluß mangelhafter Ernährung auf die Intelligenz; Bodenerosion, Wassermangel, Zerstörung der tropischen Regenwälder, die Erwärmung der Welt, das Ozonloch und eine Verlangsamung des Anstiegs der landwirtschaftlichen Produktivität; Zunahme des Ethnozentrismus und der Fremdenfeindlichkeit; noch immer Verteidigungsausgaben in aller Welt in Höhe von einer Billion Dollar; und es ist kaum jemand an der Macht, der das Schicksal der Gattung und des Planeten berücksichtigt. Es gibt sicherlich wissenschaftliche Ansätze für jede dieser Fragen, aber an raschen Fortschritten hindern uns nicht die Schranken der Wissenschaft und Technologie. Die Schranken liegen eher in einer gefährlichen Vorliebe für kurzfristige anstelle langfristiger Ziele, in den Interessen der Machthaber, einem mittelmäßigen Ausbildungsniveau und einem Mangel an septischem Denken. Wenn wir weiterhin die Früchte der Wissenschaft genießen wollen, müssen wir lernen, wie wir ihre Methoden besser als bisher anwenden.

Carl Sagan ist Direktor des Planetarischen Laboratoriums der US-Universität Cornell und gilt als einer der Väter des Voyager-Programms der NASA. In den USA ist er auch durch seine populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen bekannt.