Vom Fortschritt profitieren

■ Kiichi Miyazawa, japanischer Ministerpräsident

Jacques Cousteau: Japan hat seine industrielle Technologie energischer vorangetrieben als die Grundlagenforschung. Das Resultat ist ein großer Exporterfolg bei Industrieprodukten, trotz kaum vorhandener Rohstoffe. Der Erfolg dieser Politik ist per definitionem sehr gefährlich. Ist der mit der Marktwirtschaft verbundene Materialismus nicht dabei, Japans Gesicht zu entstellen und seine traditionellen Werte zu verderben?

Miyazawa: Die Wirtschaft als Tätigkeit ist wichtig, aber man muß sie auch als Mittel betrachten, das es den Menschen ermöglicht, in Würde zu leben. Die Wirtschaft integriert das Leben. Es ist richtig, daß heute noch nicht alle Bürger voll und ganz von der Prosperität des Landes profitieren. Wir müssen den Konsumenten einen größeren Teil davon zugestehen. Und wir müssen die Gesellschaft auf dem Respekt vor der „Familie“ aufbauen, die der wichtigste Ort der menschlichen Entfaltung ist. Eine Umfrage hat kürzlich gezeigt, daß 80 Prozent der Japaner bereit sind, einen niedrigeren Lebensstandard zu akzeptieren, wenn das der Preis für einen besseren Umweltschutz ist. Das japanische Volk, das gelernt hatte, „sich an die Armut anzupassen“, entdeckt jetzt, daß man sich auch an Reichtum und Wohlergehen „anpassen“ muß.

Kenichi Fukui: Sind Sie auch der Meinung, daß die Bevölkerung einiger Regionen auf der Welt den Preis für die Industrialisierung der entwickelten Länder bezahlt – eine Industrialisierung, die auf Wissenschaft und Technologie beruht? Wenn ja, wie sollten sich nach ihrer Meinung die entwickelten Länder da verhalten?

Miyazawa: Wir müssen über Maßnahmen nachdenken, die es den Entwicklungsländern ermöglichen, so viel wie möglich vom Fortschritt in Wissenschaft und Industrie zu profitieren. Japans Ausgaben für Entwicklungshilfe werden von Jahr zu Jahr höher. Der kürzlich gefaßte internationale Beschluß, eine Forschungsorganisation zu gründen, die die Erde, die Umwelt und die industriellen Technologien untersucht, ist Teil dieser Perspektive. Die Organisaton hat sich das Ziel gesetzt, Vorschläge für eine technologische Entwicklung zu erarbeiten, die überzeugende Lösungen für Umweltprobleme bietet.

Stephen Jay Gould: Die Technologie war in der Vergangenheit oft ein Faktor der Destruktion (besonders als Kriegsinstrument) und der Ausbeutung (durch die Umweltzerstörung). Was können die politischen Führer und Staatsmänner tun, damit die Wissenschaft auch ein positiver Faktor für die Menschheit wird?

Miyazawa: Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben die Wissenschaften die Tendenz, sich zu zersplittern. Wenn es den Forschern auch gelungen ist, die Kenntnisse auf ihrem Spezialgebiet zu vertiefen, so hat sich doch bis heute niemand wirklich Gedanken über Probleme gemacht hat, die auf die verschiedenen Wissenschaftsbereiche übergreifen, oder über wissenschaftliche Erkenntnisse, deren Wirkungen über die Welt der Wissenschaft hinausgehen. Die Spezialisierung der Wissenschaften nimmt weiter zu.

Carl Sagan: Sollte die nationale Souveränität übergeordneten Zielen, wie etwa dem Schutz unseres Planeten und der menschlichen Gattung, untergeordnet werden? Wenn ja, bis zu welchem Grad?

Miyazawa: Für die Aufrechterhaltung der Weltordnung und darüber hinaus für das Glück der Menschheit ist es unbedingt erforderlich, daß die Staaten ihre Kooperation auf der Basis gegenseitiger Anerkennung der nationalen Souveränität weiter ausbauen – bis vielleicht eines Tages die ideale supranationale Organisation entsteht, die man als Weltföderation bezeichnen könnte. In den letzten Jahren haben Probleme, die die gesamte Menschheit betreffen, immer größeres Interesse erregt, während auf nationaler Ebene der Begriff der Unabhängigkeit immer mehr Terrain gewonnen hat. In ihrer Frage klang an, daß die Beibehaltung nationaler Souveränitäten ernste Konsequenzen für die Menschheit haben könnte, wenn ein solches System nicht in der Lage wäre, befriedigende Lösungen für die Probleme unseres Planeten zu finden. Ich bin überzeugt, daß die Nationen – Japan eingeschlossen – sich dieser Probleme noch besser bewußt werden und daß sie mit dem Blick auf das 21. Jahrhundert Hand in Hand ihre Bemühungen verstärken und es verhindern, daß eine Zeit kommt, in der die Probleme unlösbar werden.

Vitaly Goldanski: Hat die Wissenschaft nach Ihrer Ansicht der Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genützt oder geschadet?

Miyazawa: Der wissenschaftliche Fortschritt seit dem Kriegsende hat den Menschen mehr Reichtum und Wohlstand gebracht, aber die Ost-West-Konfrontation hat gleichzeitig die Energie der Wissenschaft in den Dienst der Rüstung gestellt. Diese Politik, die menschlich wie wirtschaftlich kostspielig war, bedeutete für die Entwicklung vieler Länder eine Fessel. Und schließlich gibt es leider noch viele Menschen auf der Welt, die von den Wohltaten des wissenschaftlichen Fortschritts nicht profitieren können. Meine Antwort erscheint Ihnen vielleicht banal, aber ich meine, daß die Wissenschaft nützlich für den Menschen ist, obwohl sie ihm in der Vergangenheit geschadet hat. In Zukunft müssen Politiker, Wissenschaftler und alle Menschen guten Willens gemeinsam daran arbeiten, die verhängnisvollen Auswirkungen der Wissenschaft so weit wie möglich zu reduzieren.

Kiichi Miyazawa versucht als Japans neuer, fließend englisch sprechender Ministerpräsident, dem Land ein weltoffeneres Gesicht zu geben. Von 1986 bis 1988 war er Finanzminister, mußte dann aber im Zuge des Recruit-Bestechungsskandals zurücktreten.

Foto: Paula M. Lerner

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