Gefährlicher als die Kolonialherrschaft

■ Abdou Diouf, Staatspräsident des Senegal

Jacques-Yves Cousteau: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Gefahren für Afrika? Kann die Wissenschaft Lösungen für diese Gefahren bringen? Und wie kann man die Rechte künftiger Generationen von Afrikanern schützen?

Diouf: Afrika, in dem ein Viertel der gesamten Menschheit lebt, produziert nur ein Prozent des weltwirtschaftlichen Reichtums. Afrika ist vom schwindelerregenden Fortschritt in Wissenschaft und Technik ausgeschlossen. Der wichtigste Rohstofflieferant der ganzen Welt hat eine sinkende Handelsbilanz. Mangelnde Investitionen, die Verschuldung und die Schuldentilgung, die zu einer Kapitalflucht von Süd nach Nord und zur Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte führt, bringen Afrika in eine Situation, die nur zu einer ökonomischen und gesellschaftlichen Katastrophe führen kann. Das kann man nicht hinnehmen. Gar nicht zu reden von den Versuchen, Afrika zum Mülleimer der gesamten Menschheit zu machen. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir vor allem das Erziehungswesen und die berufliche Bildung ausbauen, damit wir Anschluß an Wissenschaft und Technik bekommen.

Kenichi Fukui: Die Menschheit hat noch nie eine derartige Phase intensiver Kommunikation erlebt. Ist diese Entwicklung ein Vorteil für Staatsmänner wie Sie? Was meinen Sie, wird diese intensive Kommunikation in der Zukunft zur Empanzipation oder zur Entfremdung der Menschheit beitragen?

Diouf: Einerseits gibt es den wechselseitigen Informationsfluß, der durch die Kommunikationsnetze ermöglicht wird und der zu größerer Demokratie und zur Freisetzung von kleineren Initiativen und von schöpferischen Kräften führen kann. Andererseits darf die Information wegen der mit ihr verbundenen Macht nicht zum Monopol bestimmter Interessengruppen oder Nationen werden. Die südlichen Länder müssen sich klarmachen, daß die Herrschaft der Technologie viel mehr Entfremdung und viel mehr Schäden hervorruft als die Kolonialherrschaft. Aber die ungeahnte Entwicklung der Kommunikationstechniken ist für uns vielleicht eine Möglichkeit, Rückstände aufzuholen.

Vitaly Goldanski : Welche wissenschaftliche Leistung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird Ihrer Meinung nach die meisten Vorteile für die Menschheit bringen?

Diouf: Die Energierevolution. Sie beruht auf sauberen Quellen, beispielsweise der Solarenergie. Diese unerschöpflichen Energiequellen werden helfen, Länder zu entwickeln. Und durch vernünftige Nutzung diverser biotechnologischer Verfahren wird es gelingen, den Teufelskreis der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen versus ökologisches Ungleichgewicht zu entkommen. Diese wissenschaftlichen Fortschritte müssen durch eine geistige Revolution unterstützt werden. Es muß eine Welt entstehen, in der alle Menschen ohne Rassen- und Glaubensschranken Brüder sind. Diese neue Welt muß auf den Tugenden Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität beruhen.

Stephan Jay-Gould: Zum Verständnis der wissenschaftlichen Probleme benötigen wir in Zukunft ein höheres Bildungsniveau. Wie sollen für alle Menschen die Zugangsvoraussetzungen dazu geschaffen werden?

Diouf: Wir verfügen bereits über alle materiellen und technischen Mittel, um die fünf Milliarden Menschen, die die Erde heute bewohnen, und die acht Milliarden Menschen, die sie im Jahre 2030 bewohnen werden, zu ernähren, zu kleiden und medizinisch zu versorgen. Jedoch müssen egoistische Bestrebungen überwunden und Streitigkeiten beigelegt werden. Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Verschwinden der beiden antagonistischen Machtblöcke ist es möglich, Rüstungskosten zu senken. Die könnten der Entwicklungshilfe zugute kommen. Vor allem Afrika, das weiterhin der ärmste Kontinent ist, muß davon profitieren, damit es in die Lage versetzt wird, die Vorurteile auszuräumen, denen es ausgeliefert ist, und den Rückstand aufzuholen, der es vom Rest der Welt trennt.

Carl Sagan: Soll die nationale Souveränität höheren Zielen untergeordnet werden, zum Beispiel dem Schutz der Erde und der menschlichen Gattung? Und bis zu welchem Punkt?

Diouf: Das Prinzip der Respektierung der nationalen Souveränität ist heilig, unverzichtbar zur Erhaltung der internationalen Stabilität. Es muß aber durch die Notwendigkeit des Schutzes von Menschheit und Erde begrenzt werden. Es darf nicht dazu mißbraucht werden, daß bestimmte Staaten sich das Recht nehmen, massive Zerstörungswaffen zu produzieren und zu lagern, weiterhin gefährliche thermonukleare und atomare Versuche durchführen und ohne zu fragen Tausende von Satelliten in dem Weltraum zu schießen. Das Erbe der ganzen Menschheit darf nicht durch sie zerstört werden.

Abdou Diouf wurde in Senegal als Sohn eines Postbeamten geboren. Nach der Koranschule studierte er Jura. 1970 ernannte ihn Senghor zum Ministerpräsidenten. 1981 wurde er dessen Nachfolger als Staatschef. 1983 gewann er Wahlen, deren Sauberkeit umstritten war, mit 84 Prozent der Stimmen.