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■ Musik und Fraktale: höhere Mathematik und schnelle Rechner im Dienste Neuer Musik

Ein blauer Punkt blinkt auf der Hörsaalwand. Er beginnt zu wandern, hinterläßt eine spiralförmige Spur, wird dabei begleitet von hingetupften synthetischen Klängen. Mit zunehmendem Tempo umkreisen sich andersfarbige Linien, der Sound steigert sich in einem sphärischen Orchester. Es entsteht das Bild eines riesigen magischen Auges, von dem aus sich eine rosa Leuchtspur im Nichts verliert. Die Musik verschwindet im Ultraschallbereich. Zu sehen und zu hören war die audiovisuelle Umsetzung einer hochkomplizierten mathematischen Formel, deren Lösungsmenge man nach ihrem Entdecker „Mandelbrotmenge“ nennt.

Echtzeit: Ton und Bild entstanden im Augenblick der Vorführung. Zentrum eines Lastwagens voll Equipment, am Freitag vor Weihnachten im Hörsaalgebäuge der Uni Bremen aufgebaut, war ein schneller Rechner, der die jeweiligen Funktionswerte in Punkte und Töne umsetzte. Eingeladen hatte das Mathematik-Seminar „Dynamische Systeme“ um den Chaos-Forscher Heinz- Otto Peitgen: Die Hamburger Musikprofessoren Manfred Stahnke und Kiyoshi Furukawa sollten zeigen, wie man aus Mathematik Musik macht.

Stahnke und Furukawa sind Schüler des ungarischen Neue- Musik-Komponisten György Ligeti. Der eine studierte die Gesetzmäßigkeiten ausgefallener Musikrichtungen wie Renaissance-Musik und Tanzmusik gewisser Indio-Stämme. Der Japaner („Ich habe mit Computer etwas lang gerechnet“) wertet aus, was sein Rechner aus komplexen mathematischen Formeln macht; seine Kompositionen sind Kollagen — „hier ist meine Auswahl“.

Beide Musikwissenschaftler interessieren sich für das mathematische Modell des „zellulären Automaten“, der, musikalisch gesagt, eine scheinbar wirre, „chaotische“ und endlose Reihe von Tönen produziert, die aber nach exakten Regeln aus den vorhergehenden Tönen entstehen. Man hört, Furukawa demonstrierte es, je nach eingesetzten Parametern eine minimalistische, automatisch dahinperlende Klangfolge „ohne Punkt und Komma“. Optisch umgesetzt entstehen geometrische Muster.

Das „fraktale Denken“ hinter dem zellulären Automaten ist, so Manfred Stahnke, „uns als Komponisten total vertraut.“ Das Denkmodell einer „Urreihe, die Schritt für Schritt weitergerechnet wird“, lasse sich sowohl auf mittelalterliche Komponisten als auch auf Andenmusik anwenden. Stahnke zeigte seine Ideen am Beispiel des Niederländers Josquin (1440-1521), dessen Musik sich aus einer „Uridee“ wie d-a- g-a quasi automatisch ableiten läßt. Man muß nur die Gesezte der „Energielinien“, der Bewegung, der möglichen Sprünge, des harmonischen Ideals der Zeit etc. kennen. „Das Werk schreibt sich gewissermaßen selbst,“ so Stahnke, „ich träume davon, daß ein Computer ähnliche Musik wie Josquin komponiert.“

Daß es sich hier nicht um Computerspiele und mathematisch- musikgeschichtliche Spekulationen handelt, sondern um Handwerkszeug der Neuen Musik, zeigten Stahnke und Furukawa anhand eigener Kompositionen. Stahnke setzt sein Credo — „Wir sind zu sehr von der sentimentalen Musik des 18. und 19. Jahrhunderts beeinflußt; ich suche eine Musik ohne Gefühl, die durch die Propotionen wirkt“ — auch rhytmisch um: seine Kompositionen sind hochkomplexe „Flickenteppiche“ aus chaotisch angereicherten Tönen und kleinteilig zerschlagenen Pulsen. Zudem liebt er es, unsere auf „wohltemperiert“ eingestellten Ohren zu irritieren, indem er seine Streicher Naturton-gestimmt spielen läßt. „Zeit wird flüssig,“ erinnerte er an Meister Ligeti.

abs(int(X(X+1.6)x60)-19): die Arbeit des Komponisten Furukawa. So berechnet er, d.h. sein Computer den Parameter für die Tonhöhe seiner Mandelbrot- Musik. Er hat es mit Iterations- Tiefe, Schrittbreite und Anfangswerten zu tun. Nach Erfahrung und Laune gibt er Parameterwerte ein — „Ich gebe 40, jede 40.Zelle hat eine 1“ — und kann so jederzeit eine Life-Performance geben. Sein 13-teiliges Klavierkonzert auf der Grundlage zellulärer Automaten ist, obwohl Automatenmusik, ein Stück voll Mutwilligkeit, Dramatik, eleganter Läufe und aggressiver Schübe.

„Stockhausen und Pierre Boulez haben“ sagte Stahnke, „versucht, das Band zur Geschichte zu zerschneiden. Wir kauen weiter am langen Kaugummi der Musikgeschichte.“ Burkhard Straßmann