: Zu Fuß durch den wilden Osten
■ »Mit Franz Biberkopf durch den wilden Osten« — eine literarische Stadttour
Rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch, und die Schienen haut sie wie nichts in den Boden... Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz. Viele Menschen haben Zeit und gucken sich an, wie die Ramme haut.«
Berlin, Ende der zwanziger Jahre im Februar: die U-Bahn wird gebaut. Vor diesen Hintergrund setzt Alfred Döblin seinen Großstadtroman »Berlin Alexanderplatz«, der über die Biographie des Arbeiters Franz Biberkopf hinaus eine hellsichtige Zeit- und Gesellschaftsstudie voll atmosphärischer Dichte ist, angesiedelt in den damals proletarischen Vierteln rund um den »Alex«.
Wilder Osten
Mit Franz Biberkopf durch den wilden Osten nennt sich die neue Litera-Tour von StattReisenBerlin. Fern vom üblichen voyeuristischen Reisebus-Tourismus, ermöglicht das StattReisen- Konzept, auf kleinem Raum einen Teil der Stadt intensiv kennenzulernen — ein Kiezerlebnis, verknüpft mit historischen, sozialen und literarischen Randbemerkungen: zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder sogar in Kanus.
Haftentlassung
Zu Fuß erlebt der willige Literatour- Teilnehmer zwei Stunden lang die ersten Wege des Franz Biberkopf nach seiner Haftentlassung aus der JVA Tegel; seine ersten tastenden Versuche, mit der neugewonnenen Freiheit zurechtzukommen, die er zu Beginn als die eigentliche »Strafe« empfindet. Michael Bienert von StattReisen beginnt seine Führung am Rosenthaler Platz.
Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Tietz vorbei, nach rechts bog er ein in die schmale Sophienstraße. Er dachte, diese Straße ist dunkler, wo es dunkel ist, wird es besser sein. Schmal ist die Sophienstraße immer noch; das schützende Dunkel aber kann der heutige Stattreisende nur erahnen: 1987 wurde die Straße edelsaniert. Statt alter, erfahrungs- und erlebnisträchtiger Fassaden dominiert das gemeine Pastell, ein Plastikpuppenstuben- Outfit ohne Seele und Abgründe. Die Sophienstraße spielte auch im Leben Alexander Döblins eine wichtige Rolle: hier steht bis heute das ehemalige Handwerkervereinshaus, der Treffpunkt für die Arbeiterbewegung und Sitz des KPD-nahen Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Dessen Mitglieder waren bekanntlich die schärfsten Kritiker Döblins.
Arbeiter und Kriminelle
Einen von ihnen zitiert Michael Bienert; er benutzt kleine Verschnaufpausen wie diese, um seine Zuhörer in die Welt des Romans und seines Autors zu führen. Die Figur des Franz Biberkopf handle nicht klassenbewußt, schrieb der Kritiker aus dem Schriftstellerbund, sie demoralisiere damit die Arbeiterbewegung und spreche außerdem in einem schrecklichen Gossenjargon. Zu differenziert war den Genossen der Franz Biberkopf, eindeutige Positionen wurden verlangt. Doch Döblin, von Beruf Kassenarzt, stellte seine »eigentümlichen Perspektiven« dar: Und wenn ich diesen Menschen und vielen ähnlichen da draußen begegnete, so hatte ich ein eigentümliches Bild von dieser, unserer Gesellschaft: wie es da keine so straffe formulierbare Grenze zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen gibt, wie an allen möglichen Stellen die Gesellschaft... von Kriminalität unterwühlt war. Und er behielt damit am Ende recht.
Donnerhall
Weiter gehts zum Hackeschen Markt, in die Hackeschen Höfe, die größte Mietskasernenanlage im Berlin der zwanziger Jahre. Dort verkroch sich Biberkopf, ermattet vom ungewohnten Großstadtlärm, dort sang er die Hauswände an, um seine Stimme und sich selbst zu spüren, und ebenfalls dort wurde er vom »roten Juden« aufgegriffen und in dessen Wohnung verfrachtet. Für die Stattreisenden bietet sich erneut eine Gelegenheit, den Sätzen Döblins zu lauschen — in einem der unzähligen, noch erhaltenen Höfe mit ihren verblassten Jugendstilfassaden.
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall« und »Juvivallerallera« vernehmen wir lautstark aus dem Mund unseres Reiseführers. Er hätte am liebsten mit Schauspielern gearbeitet, um einige Episoden gestalten zu können und so die Atmosphäre des Romans lebendiger heranzuholen. Notwendig ist das nicht. Der Text und die Vortragskraft lassen viele Assoziationen greifen, kleine Anekdoten und ein Blick in das Adreßbuch von 1933 beleben Festsäle, Buchhändler und Gravieranstalten in den Hackeschen Höfen, die heute, abgeblättert, zerrissen und doch so eindrucksvoll vergangene und keinesweges »goldene« Zeiten dokumentieren.
Ringer und Nutten
»Felsenfest«, »Immertreu«, oder »Zyklop« betitelten sich sehr bildhaft die sogenannten Ringvereine, kriminelle Vereinigungen mit sportlichem Vorwand, die sich in der Mulackstraße einnisteten — das nächste Kleinziel der Litera-Tour auf Franz Biberkopfs Spuren. Kleine und große Gangster, Prostituierte und Künstler füllten das Straßenbild. Von lebhaftem Handeln und Treiben ist jetzt nichts mehr zu spüren, fast ausgestorben steht hier ein Häuschen, dort ein Häuschen, die allesamt unter den Händen der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV — »kann weiter verkommen«) langsam verrotten. Mieterinitiativen und Besetzer aus Ost und West zanken sich um die besten Sanierungsmethoden und können doch nichts tun, da die Eigentumsverhältnisse bis jetzt nicht geklärt sind.
Juden
Traurig ist es um das ehemalige ostjüdische Zentrum zwischen Schendelgasse (eigentlich eine Ex-Gasse, denn Häuser gibt es so gut wie gar nicht mehr) und Grenadierstraße, heute Almstadtstraße, bestellt: ein Blick auf eine alte Fotografie, die der »Reiseleiter« bislang in seinem dicken Materialpaket verborgen hielt, zeigt Unvergleichliches: Menschenmassen, Hüte, lange Bärte, Läden, Häuser, Häuser, Häuser. Selbst unter Aufbietung allergrößten Vorstellungsvermögens kann man den eigenen Standort — Brachland, »schicke«, moderne Gebäude im Plattenbaustil — nicht mit dem Foto zusammenbringen. Der städtebauliche Kahlschlag wird, vom Reiseleiter auch sarkastisch so formuliert, als Metapher für die Vernichtung der Menschen empfunden. Hilflosigkeit, nicht in Worte zu fassen. Zum ersten Mal auf dieser Tour stößt jeder so deutlich auf die eigenen gedanklichen Grenzen.
Schöne Lust
Bevor es nun zum endgültig letzten Standort unter dem Alexanderplatz geht, gibt's noch einen kurzen Halt auf der früheren Kaiser-Wilhelm- Straße, heute nach Rosa Luxemburg benannt, direkt neben — und das nicht zufällig — einem Sex-Shop mit dem einfallsreichen Namen »Erotika«: Franz war schon draußen auf der Straße im Regen. Wat machen wir? Ick bin frei. Ick muß ein Weib haben. Ein Weib muß ick haben. Schöne Lust, fein is das Leben draußen. Ungefähr hier, hat Michael Bienert recherchiert, müßte sich Franz Biberkopf seine erste Prostituierte nach der Haftentlassung aufgegabelt haben. Ein historisch-literarischer Punkt, an dem wir stehen, und gern lassen wir uns trotz Regen und Kälte von den zunächst scheiternden sexuellen Versuchen des Franz Biberkopf vorlesen: Raus auf die Straße! Luft! Regnet noch immer. Was ist nur los? Ich muß mir ne andere nehmen. Erst mal ausschlafen. Franz, wat is denn mit dir los?
Alfred Döblin
Da es oben auf dem Alexanderplatz nicht viel Erbauliches oder auch nur Interessantes zu sehen gibt, endet die Tour unten, in den Unterführungen und U-Bahn-Schächten, in breiten Hallen mit niedrigen Decken. Intensive, kurze zwei Stunden liegen hinter den Teilnehmern, zwei Stunden, die neugierig machen auf mehr Stadtrundgänge dieser Art und die den Spaß am Neuentdecken eines Buches wecken. Und wer das heutige Berlin ebenso genau ansieht wie Döblins gewaltigen Roman — der wird feststellen, daß das Stadtbild sich dem kunstvoll-sprunghaften, »zersiedelten« Stil des großen Romanciers in erstaunlichem Maße angenähert hat. So wird der Leser des heutigen Groß- Berlin viel mehr Vertrautes finden als erwartet. Und die Biberköpfe, die nach der Knastentlassung versuchen, im Osten Berlins wieder eine kleine Existenz zu finden, wird es in den kommenden Jahren eher noch häufiger geben als zu Döblins Zeiten.
Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz, verliest der Stattführer noch einmal aus Döblins Roman, viele Menschen haben Zeit und gucken sich an, wie die Ramme haut. Anja Poschen
»Mit Franz Biberkopf durch den wilden Osten«, Informationen bei StattReisenBerlin, Stephanstr. 24, 1/21, Tel.: 395 30 78.
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