KOMMENTARE
: Düstere Aussichten

■ Die nationalen Bürokratien der Ex-UdSSR verfügen kaum über positive Visionen

Noch einmal, scheint es, ist den Delegationen der in der GUS zusammengefaßten elf Nachfolgestaaten der UdSSR ein Minimalkonsens in der Frage der Atomwaffen gelungen. Angesichts der Tatsache, daß zwischen Armenien und Aserbaidschan ein unerklärter Krieg stattfindet und in Georgien ein Bürgerkrieg im Gange ist, wirkt der Beschluß der elf, die Atomwaffen vorläufig noch unter einem gemeinsamen Kommando zu belassen, beruhigend. Doch die Dynamik der Entwicklung, die sich in den zwischenstaatlichen Beziehungen der Nachfolgestaaten abzeichnet, gibt keinen Raum für Optimismus. Die politischen Eliten — allesamt Vertreter der nationalen Bürokratien — stützen sich nämlich in ihren Republiken selbst nur auf äußerst fragile politische Strukturen, die ihre Funktionstüchtigkeit bisher keineswegs bewiesen haben. Mit dem Zerfall der Union wird aber der entschuldigende Hinweis auf das Versagen der Zentrale entfallen. Damit werden sich die innenpolitischen Auseinandersetzungen angesichts der sich weiterhin verschlechternden Lebensverhältnisse in die Republiken selbst verlagern. Die sich verschärfende Kritik an Jelzin speist sich ja nicht nur aus der Tatsache, daß große Teile der zentralen Bürokratie übernommen worden sind, sondern vor allem daraus, daß deren Funktionsunfähigkeit durch die Aktivität des Präsidenten überdeckt werden muß. Schnellschußdekrete wie die Auflösung aller Kolchosen können Reformdiskussionen bei den Betroffenen selbst nicht ersetzen, entsprechen aber dem Geist der alten Nomenklatura. Angesichts des sich ausweitenden Massenelends und der fehlenden politischen Vision der nationalen Bürokratien sind politische Eruptionen zu erwarten.

Das serbische und auch das rumänische Beispiel lehren, daß mit Hilfe der Manipulation nationalistischer Gefühle zum Zwecke des Machterhalts die alte politische Klasse eine bestimmte Zeit überleben kann. Nur in jenen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, in denen Volksbewegungen die alte Nomenklatura beseitigen, sind angesichts des fehlenden gesellschaftlichen Unterbaus Entwicklungen hin zur Demokratie zu erwarten. Doch in den seltensten Fällen wird es gelingen, gesellschaftliche Institutionen wie Gewerkschaften und Unternehmerverbände, Berufs- und andere Interessenvertretungen zu schaffen, die in der Lage sind, die sich entwickelnden Interessensgegensätze in friedlicher und ziviler Weise zu vermitteln. Wahrscheinlicher ist, daß populistische Führerpersönlichkeiten autoritäre Regimes errichten, die bestensfalls in Entwicklungsdiktaturen münden. Und das sind wahrlich keine guten Aussichten für das neue Jahr. Erich Rathfelder