„Und jetzt frißt uns der Krieg“

In einer kroatischen Enklave in Bosnien, noch fern von den Fronten des Bürgerkriegs, herrscht Verzweiflung  ■ Aus Bugojna Roland Hofwiler

Sie haben es aufgegeben, eine hohe Tanne ins Ortszentrum zu stellen und sie feierlich zu schmücken. Dreimal schon sei ein solcher Weihnachtsbaum des Nachts gefällt worden, erzählen die kroatischen Einwohner von Bugojna, einem kleinen Städtchen in der Herzegowina, einem kargen Landstrich, der an Montenegro grenzt und von wo aus der Krieg in Kroatien weit entfernt ist.

Zumindest auf der Landkarte. Doch in der Kroatenenklave ist die nationale Spannung allgegenwärtig. Nicht nur fällte eine unbekannte Hand mehrmals den Weihnachtsbaum der Kroaten, auch die wenigen Serben im Ort verzichteten in diesem Jahr erstmals auf ihre Tanne, die nach altem Brauch zur Jahreswende aufgestellt und das Christfest der orthodoxen Gläubigen am 6. Januar ankündigen sollte. Kein gutes Zeichen, sagen die Kroaten und Muslimanen, denn außerdem hätten ihre serbischen Nachbarn in diesen Tagen ihre Wohnungen fluchtartig aufgegeben. Parallelen werden gezogen: Bevor die ersten Bomben auf Vukovar und Dubrovnik fielen, da hätten die serbischen Mitbürger auch ihre Heimat verlassen um den Bundestruppen und serbischen Freischärlern „freie Fahrt“ zum Morden zu lassen.

Auch wenn in Bugojna noch keine Tote zu beklagen sind, geschossen wird bereits in die Luft. Es seien alte religiöse Bräuche, am Heiligen Abend und zu Neujahr die Flinte aus dem Schrank zu holen und in die Luft zu feuern, behaupten die Kroaten des Ortes, die zu jedem Anlaß, ob zur heiligen Messe oder zum Bierschoppen auch tatsächlich ihre Flinten mitnehmen. Weniger aus Tradition als aus Angst vor einem bevorstehenden Bürgerkrieg, glaubt man als Beobachter bemerken zu können. Und dies gesteht der katholische Dorfpfarrer bei einem Gläschen zuviel zu später Stunde auch ein. Denn die Tradition, „Freudenschüsse“ abzugeben, gibt es zwar seit altersher anläßlich von großen Festen in Bosnien-Herzegowina, doch nur bei Hochzeiten und Beerdigungen.

Aber das war einmal, erzählt Ante Kovac, ein Gastarbeiter aus Bochum, dem seine Verzweiflung ins Gesicht geschrieben steht. Wie die meisten im Ort ist auch er ein „pecalbari“, wie sie sich selbst nennen, eben ein „Wander-Arbeiter“. Mehr als die Hälfte der viertausend Einwohner, Serben, Kroaten und Muslimanen, haben ihr Glück als Gastarbeiter in Westeuropa versucht.

„Und jetzt frißt uns der Krieg“, schreit Ante heraus. Aufgewachsen ohne Vater, der als „Abweichler“ in den 50er Jahren auf der Gefangeneninsel „Goli otok“ sein Leben ließ, verlor Ante in diesem Herbst seinen Bruder Drago. Der starb im Kampf um Vukovar als Freiwilliger, als Arbeitsloser, der nicht zu seinem älteren Bruder nach Deutschland flüchten wollte. Aber auch die Schwester ist bisher nicht, wie verabredet, zum Jahreswechsel in Bugojna angekommen. Ante und seine alte Mutter hören Radio. „Radio Sarajevo“ sendet regelmäßig Sondersendungen. Schreckliche Hilferufe. Jeder, der seine Angehörigen sucht, kann in Sarajevo anrufen und über den Äther sprechen. Und es wird an diesen Tagen mehr gesprochen als fröhliche Melodien angestimmt. „Bitte Istvan, melde dich, seit drei Monaten habe ich nichts mehr gehört, deine Mutter.“ So eine der unzähligen Hilferufe über „Radio Sarajevo“. Stundenlang werden sie verlesen.

Der Sohn will trösten. Die Bundesarmee habe doch die ganze Republik Bosnien umzingelt. Er versucht einen scherzhaften Vergleich. Auch er habe eine Geisterreise hinter sich: Von Bochum erst zwischen Nürnberg und München im Stau, dann der Umweg Wien-Budapest um Kroatien zu umgehen und über Belgrad nach Hause zu kommen. Wie soll es da Schwester Zeljka aus Osijek leichter haben? Die Argumente stimmen: Die gemeinsame Grenze Bosniens mit Kroatiens, das Sava-Tal mit der Autobahn Zagreb-Belgrad, ist seit Wochen unpassierbar. Man spricht nun schon davon, die Großstadt Karlovac, der letzte offene Transitweg nach Bosnien, könnte ein ähnliches Schicksal wie Vukovar ereilen.

In der katholischen Kirche hängt Todesanzeige an Todesanzeige von gebürtigen Bürgern der Stadt. Pfarrer Domogoj erklärt: Aus dieser Bergregion seien seit Jahrhunderten die Menschen abgewandert, nach dem Krieg habe man viele in Ostslawonien um Osijek und Vukovar in die verlassenen Gehöfte der Deutschen und Ungarn angesiedelt. Pfarrer Domogoj kann seine Tränen nicht unterdrücken. Sein Bruder sei gefallen. Aber wie solle er dies der Schwägerin und den Kinder erzählen, die schon vor Wochen aus Osijek nach Zagreb geflüchtet seien. Täglich riefen sie ihn an und fragten, ob er etwas von Papi gehört habe. Als er einmal weinte und nichts sagte, antwortete Maria, die älteste Tochter seines Bruders: „Onkel Domogaj, ich weiß doch, auch wenn Du nichts sagst, Papi lebt nicht mehr, aber sag mir doch, wie soll ich es Mutter erklären, sie wird überschnappen.“ Pfarrer Domogoj: „Weder meiner Schwägerin sag ich die Wahrheit, noch den Gemeindemitgliedern. Sie ahnen, wissen aber noch nicht, daß serbische Freischärler auch Bugojna von uns Kroaten säubern wollen.“ Täglich bekommt er einen Anruf oder Schmähbrief, doch abzuhauen. Sonst werde es ihm ergehen wie den gefällten Tannenbäumen.