Jubel und Trubel rund um den Rubel

Freigabe der Preise in Rußland wird nicht alle Regale füllen/ Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern der neuen „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ um Wirtschaftsreform/ Abschied in Wehmut von der alten Union  ■ Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) — Die Süßwarenfabrik „Volksfront“ — früher Rot Front — stellt ab sofort die Ausgabe ihres Konfektes „Mischka“ ein. Nach Eingang zahlreicher Aufträge aus den unabhängigen Republiken wird sie neue Sorten und Artikelbezeichnungen ausarbeiten. Auch die Zusammensetzung des Konfektes soll sich ändern: „Statt fehlender Milch und Zucker wird an die Füllmasse Rubel gedacht“, meldete die russische Agentur 'Ani‘ am Neujahrsmorgen.

Die Nachricht ist sicherlich getürkt, aber sie enthält alles, was die Russen in diesen Tagen bewegt: Der Mangel, der Rubel und das abgestürzte Reich. Als um Mitternacht die Uhren des Kreml das neue Jahr antickten, herrschte ausgelassene Stimmung auf dem Roten Platz. Hier, wo man früher nicht mal rauchen durfte, knallten die Champagnerkorken und zersplitterten anschließend die leeren Glaskörper. Im Gedonner des Feuerwerks, das sich die Stadt Moskau trotz leerer Kassen einiges hat kosten lassen, erhoben sich Hochrufe auf die neue „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“. Doch sie versiegten bald. Ein böses Omen für diese schwierige Geburt. Glauben will daran noch keiner — von Identifikation ganz zu schweigen.

Die Miliz vor dem russischen Tempelbezirk übte sich in Langmut, schritt erst ein, als ein Provokateur vor dem Lenin-Mausoleum seine Hose fallen und sich von einem Kollegen mit einem Gürtel bearbeiten ließ. Das war dann zuviel. Doch Lenin rührte sich nicht, sowenig wie die Gesichter seiner Grabwache. Zackig wie immer vollzogen sie die Wachablösung. Diesmal unter dem Gegröle der pietätlosen Masse.

Zu feiern haben die Russen nicht viel, aber sie taten es trotzdem. Denn in der Trauer schwingt auch Erleichterung mit. Jetzt kann es von vorne losgehen. Und was keiner für möglich gehalten hatte: Die Tage vor dem Fest füllten sich die Geschäfte. Schon lange hatte es in der Kaufhalle am Kalininprospekt nicht mehr so gut gerochen. Berge von geräucherten Würsten türmten sich auf. Eier und Fleisch, die erlesensten Weine aus den ehemaligen Bruderrepubliken, französischer Cognac und deutsches Bier gab es in rauhen Mengen. In der Nachbarrepublik Weißrußland hatte Jelzin am Vorabend noch eine Sonderration Wodka bestellt und auch erhalten. Ansonsten hatte er in seiner Botschaft ans Volk keine rosigen Töne angeschlagen. Eher davor gewarnt, sich bis zum Ende des nächsten Jahres keine allzu großen Hoffnungen zu machen. Und am nächsten Tag leerte sich das Füllhorn über der russischen Hauptstadt! Das werden ihm seine Landsleute erstmal nicht vergessen.

Preise steigen, Regale bleiben leer

Ein taktisch geschickter Zug, denn heute löst Rußland die Preisbindung für fast alle Waren. Ausgenommen bleiben Medikamente, Grundbedarfsmittel und Kindernahrung. Die Preise werden nach Schätzungen von Experten um das fünf- bis zehnfache steigen. Dort, wo der Staat nach wie vor die Hand draufhält, beim öffentlichen Verkehr, in der Luftfahrt und in der Rohstoffproduktion werden sich die Tarife verdoppeln oder verdreifachen. Damit füllen sich noch lange nicht die Regale. Denn noch sind die Unternehmen nicht privatisiert. Die meisten verfügen weiterhin über ihr sicheres Monopol. In der Anfangsphase werden die Russen mehr zahlen, aber nicht dadurch entschädigt, daß man ihnen die Jagd erspart. Die Privatisierung, läuft sie denn nach Plan, soll 1992 92 Milliarden Rubel in die defizitären Staatskassen einspielen. 1993 hofft man mit weiteren 300 Milliarden Rubeln. Von der sofortigen Privatisierung ausgenommen ist der militärisch-industrielle Komplex, die Rohstoffherstellung, der Flugverkehr, Eisenbahnen und Banken. Nur mit Sondererlaubnis der Regierung dürfen solche Industrien verkauft werden, die Alkohol, Tabak, Kindernahrung und Medikamente produzieren.

Das alles übersteigt noch die Vorstellungskraft der meisten Russen. Eins wissen sie auf jeden Fall. Die Preise werden sich den bisherigen Schwarzmarktpreisen nähern. Viele haben in den letzten Monaten auf ihr Erspartes zurückgegriffen, um auf den teuren Märkten das Notwendige einzukaufen.

An allen Ecken Moskaus sprießen Kioske aus dem Boden, die vom westlichen Shampoo bis zum Ketchup alles mögliche anbieten. 300 Gramm dieses Tomatengemischs für schlappe 180 Rubel, einem Drittel eines durchschnittlichen Monatsverdienstes. Auf Ketchup kann man verzichten, aber nicht auf Kartoffeln und Gemüse. Viele bangen, daß auch das bald nicht mehr erschwinglich sein wird. Die Renten und Stipendien für Studenten sind zwar erhöht worden, aber diese Schichten werden am meisten leiden. Schon jetzt säumen alte Mütterchen die Eingänge der Markthallen und verkaufen ihre bescheidenen Habseligkeiten.

Auf Bezugsscheine oder aus einem „Beerdigungskontingent“ ergatterte Wodkaflaschen verhökern sie für hundert Rubel. Das brächte ihnen gerade mal anderthalb Kilo Tomaten auf demselben Markt. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die alten Menschen am verzagtesten sind. Verbitterung spricht aus ihren Gesichtern. Und keiner darf es ihnen verdenken, auch wenn sie mit autoritären Lösungen liebäugeln. Eine Umfrage zum Jahresende ergab: Nur 13 Prozent gehen mit Freude ins nächste Jahr, ein Drittel hegt Hoffnung, ein weiteres Drittel fühlt sich unsicher und lediglich ein knappes Fünftel hat Angst. Dieses Fünftel besteht fast ausschließlich aus Leuten, die über 50 Jahre alt sind.