1991 über 2.000 rassistische Straftaten

Zahl der ausländerfeindlichen Übergriffe gegenüber dem Vorjahr mehr als verachtfacht/ Nur in 57 Fällen wurde Untersuchungshaft verhängt/ Neuer Meldedienst beim BKA/ Statistische Schönfärberei  ■ Von Bernd Siegler

Nürnberg (taz) — Die Anzahl von rassistischen Übergriffen und Ausschreitungen in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr geht weit über das bislang bekannte Maß hinaus. 2.074 fremdenfeindliche Straftaten wurden von Januar bis Anfang Dezember dem Bundeskriminalamt gemeldet, darunter 325 Brandanschläge und 188 Angriffe gegen Personen. Der Rest setzt sich unter anderem aus Sachbeschädigungen und sog. Propagandadelikten zusammen. Gegenüber 1990 haben sich damit die rassistischen Straftaten mehr als verachtfacht. Kurz vor Weihnachten hatte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Eckart Werthebach die Zahl der Gewalttaten von rechts noch auf „nur“ 1.152 veranschlagt. Die neuen, weit höheren Zahlen gehen aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der PDS-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke hervor. Demnach hat auch der Mitgliederstand der rechtsextremistischen Organisationen mit 40.000 einen neuen Höchststand erreicht.

Aus den vom BKA an das Bundesinnenministerium weitergeleiteten Zahlen geht hervor, daß allein im Oktober 904 rassistische Straftaten begangen worden sind. Das sind nahezu viermal soviel wie im gesamten Vorjahr. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1991 waren insgesamt 286 sog. ausländerfeindliche Straftaten registriert worden, im August/ September weitere 357. Spitzenreiter bei den rassistischen Gewalttaten ist konkurrenzlos Nordrhein-Westfalen mit insgesamt 631 Straftaten, darunter 107 Brand- und Sprengstoffanschläge und 44 Angriffe gegen Personen, gefolgt von Niedersachsen (308) und Baden-Württemberg (263). Von den neuen Bundesländern bilden Sachsen-Anhalt (96) und Sachsen (91) die unrühmlichen Spitzenreiter. Mit 26 Angriffen auf Personen belegt Sachsen-Anhalt in dieser Sparte gar bundesweit nach NRW den zweiten Platz. Schlußlichter der Statistik bilden die Stadtstaaten Berlin (24), Bremen (14) und Hamburg (13).

Im Zusammenhang mit Aktionen gegen Ausländer und ihre Unterkünfte wurden dem BKA in diesem Jahr 776 Tatverdächtige gemeldet, davon waren nur 12 Frauen. Der weitaus größte Teil (47 Prozent) der männlichen Tatverdächtigen war zwischen 18 und 21 Jahre alt, weitere 31 Prozent unter 18 Jahren. Nur die Hälfte der Tatverdächtigen hat die Polizei vorläufig festgenommen, in nur 57 Fällen wurde Untersuchungshaft verhängt. Bei 73 der vom Bundesamt für Verfassungsschutz erfaßten Tatbeteiligten lagen bereits „verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse“ vor. 30 der Täter waren als Mitglieder neonazistischer Organisationen bekannt.

Bislang waren beim BKA noch keine Spurendokumentationssysteme zur Bekämpfung ausländerfeindlicher Straftaten eingerichtet. Das soll sich jetzt ändern. So ist die Einrichtung einer Datei vorgesehen, mit deren Hilfe die im Rahmen eines geplanten Sondermeldedienstes eingehenden Meldungen verarbeitet werden sollen. Ein besonderer Meldedienst ist notwendig, da bislang — laut Bundesinnenministerium — eine auf das Kriterium „rassistische Aktivitäten“ bezogene Auswertung der Datei APIS (kriminalpolizeilicher Meldedienst in Staatsschutzsachen) nicht möglich gewesen sei. Die Einrichtung einer „Koordinierungsgruppe Bekämpfung ausländerfeindlicher und rassistischer Übergriffe“ auf Bundesebene lehnt die Bundesregierung nach wie vor ab, da ihrer Meinung nach für die Ausschreitungen „ganz überwiegend örtliche Täter verantwortlich“ seien. Wie fragwürdig und schönfärberisch solche Statistiken wie die jetzt vorgelegte sind, beweisen jedoch die Zahlen von 1990. Dort hatte das BKA 246 rassistische Straftaten registriert. Schon der Verfassungsschutzbericht kommt bundesweit auf 398 Gesetzesverletzungen mit „ausländerfeindlicher Motivation“. Für die neuen Bundesländer zählte das BKA im vorigen Jahr lediglich sieben Straftaten: zwei Angriffe auf Personen in Brandenburg und jeweils einer in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sowie zwei beziehungsweise eine sonstige Straftat in Sachsen und Berlin. Warum die schweren rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda am 1. Mai 1990 mit einem schwerverletzten Mosambikaner, der Sturm des Lichtenberger Ausländerwohnheims „Tierpark 2“ am 5. Mai und andere Übergriffe in der Statistik verschwinden, bleibt Geheimnis des Bundeskriminalamtes. Auch einen Brandanschlag in Kempten (Allgäu) auf ein überwiegend von türkischen Staatsbürgern bewohntes Haus am 17. November 1990, bei dem ein Türke starb, sucht man in der BKA-Statistik und dem Verfassungsschutzbericht vergebens.