„Schwester Jelzin“ soll den Schwulen helfen

Europa-Konferenz der Internationalen Lesben- und Schwulenorganisation fordert die Abschaffung des diskriminierenden Artikels 121 im russischen Strafgesetzbuch/ Schwierige Zusammenarbeit zwischen Lesben und Schwulen in Ost und West  ■ Von D. Winden/H.-H. Kotte

Berlin (taz) — „121 njet! Goluboij da! Lesbianka da! Goluboij da! da! da!“ „Nieder mit dem 121, Ja zum Schwulsein, Ja zum Lesbischsein“ — mit diesen Sprechchören zogen am Montag mittag rund 100 TeilnehmerInnen der Europa-Konferenz der Internationalen Lesben- und Schwulenorganisation (ILGA) vor das Generalkonsulat der ehemaligen Sowjetunion in Berlin. Ihr Protest richtete sich vor allem gegen den Artikel 121 des russischen Strafgesetzbuches, der Analverkehr zwischen Männern mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Nach Schätzungen russischer AktivistInnen sind in den letzten Jahren durchschnittlich 800 Männer pro Jahr aufgrund von Artikel 121 verurteilt worden. Die DemonstrantInnen forderten, diesen Artikel abzuschaffen, alle aufgrund dessen Verurteilten freizulassen und die Gesetzgebung für Homo- und Heterosexuelle anzugleichen.

Lisa Power, die Generalsekretärin der ILGA, und Olga Zhuk, die Präsidentin der Tschaikowsky- Foundation, einer Lesben- und Schwulenorganisation aus St. Petersburg, sowie Selman Arikboga von der Schwulen Internationale Berlin wurden vom Presseattaché des Konsulats empfangen. Die Delegation überreichte ein Protestschreiben der ILGA und eine Unterschriftenliste der Schwulen Internationale für die Abschaffung des Artikels 121. Währenddessen bildeten die DemonstrantInnen vor dem Generalkonsulat eine Kette, die sich unter Lachen und lauten „Goluboij da! da! da!“-Rufen hüpfend in Bewegung setzte. „Schwester Jelzin, reformier' nicht nur deine Macht!“ hieß es auf einem der Plakate in verschiedenen Sprachen, die nach der Aktion den Gitterzaun des Konsulats zierten.

Die Aktion war einer der Höhepunkte des fünftägigen Treffens, zu dem 160 Delegierte von Lesben- und Schwulengruppen aus 21 Ländern zusammengekommen waren. In Arbeitsgruppen und Plenarsitzungen diskutierten die AktivistInnen über verschiedene Initiativen der ILGA, die sich als internationaler Dachverband weltweit für die Rechte von Lesben und Schwulen einsetzt.

Eine ständige Arbeitsgruppe der ILGA beschäftigt sich mit dem Einigungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft und den Folgen der Rechtsharmonisierung für Lesben und Schwule. Noch gibt es in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedliche Regelungen bei der Höhe des „Schutz“alters. Die ILGA setzt sich für ein gleiches „Schutz“alter für Homo- und Heterosexuelle ein. Auf Initiative der ILGA wird im Auftrag der EG-Sozialkommissarin Vaso Papandreou gegenwärtig eine Studie über die rechtliche, soziale und ökonomische Situation von Lesben und Schwulen in Europa erarbeitet. Peter Ashman von der ständigen EG-Arbeitsgruppe berichtete von den Bemühungen der ILGA, in der Europäischen Menschenrechtscharta einen Antidiskrimierungsartikel durchzusetzen, wonach niemand wegen seiner sexuellen Orientierung benachteiligt werden darf. Einen Erfolg konnte die ILGA-Arbeitsgruppe bereits verbuchen. Auf ihre Initiative wurde im Entwurf eines EG-Kodexes über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz festgeschrieben, daß Lesben und Schwule am Arbeitsplatz nicht diskriminiert werden dürfen.

Auch bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) setzt sich die ILGA dafür ein, daß eine Erklärung verabschiedet wird, die die Regierungen der KSZE-Teilnehmerstaaten auffordert, gleiche Rechte für Homosexuelle zu schaffen. Nachdem es der ILGA im ersten Anlauf bei der Moskauer Konferenz im vergangenen Jahr nicht gelang, den Antrag einzubringen, will man es bei der KSZE- Konferenz in Helsinki in diesem Frühjahr erneut versuchen.

Die ILGA bemüht sich auch weiter um einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Dies war im vergangenen Jahr am Widerstand vor allem arabischer Staaten vorerst gescheitert.

In einem Workshop des ILGA- Kongresses wurde das Entwicklungsgefälle zwischen den Bewegungen in Ost- und Westeuropa diskutiert. Ist das Verhältnis lediglich eines zwischen Entwickelten und Unterentwickelten, eines zwischen Helfer und Klient? Oder kann der Westen auch vom Osten lernen? Bert Thinius aus Ost-Berlin gab ein Beispiel: So sei die Lesben- und Schwulenbewegung in der ehemaligen DDR nicht so „isoliert“ von anderen politischen Bewegungen gewesen wie im Westen. In der Ex-DDR sei man sehr stark auf Zusammenarbeit angewiesen gewesen. Weiter warf Thinius die Frage auf, ob die größten Unterschiede denn wirklich zwischen Ost und West liegen würden und nicht vielleicht zwischen den Flügeln der Reformer und der Radikalen. Michael Brown aus London verwies auf die „hierarchischen“ Strukturen der Reformer und auf die „anarchischen“ der Radikalen sowie auf den breiten Graben zwischen „den AktivistInnen und der Masse“.

Teilnehmer aus Frankreich und Spanien wiesen darauf hin, daß sich die Standards der westlichen Lesben- und Schwulenbewegung nicht auf jedes Land übertragen ließen. Religiöse, soziale und kulturelle Differenzen bestimmten auch die Formen der Schwulen- und Lesbenbewegung. Zudem lasse sich Bewußtsein nicht in der Art eines „Rollenmodells“ einfach „übertragen“. So wie „Freiheit“ und „Liberalität“ in jedem Land etwas anderes bedeuteten, müßten die Ziele der Bewegung auch in jedem Land verschieden formuliert werden.

Virva Hepolampi aus Finnland und Jerzy Krzyszpien aus Polen wiesen darauf hin, daß die Ebene des Bewußtseins in der Lesben- und Schwulenbewegung des früheren Ostblocks häufig nicht über die der „sexuellen Orientierung“ hinausreiche. Große Probleme in der Kooperation zwischen Ost und West stellten „der geringe Theorielevel“ und die „Sprachbarriere“ dar.

Eine breite feministische Diskussion wie im Westen habe es etwa in Polen niemals gegeben, sagte Krzyszpien. Zudem hätten die Menschen im früheren Ostblock „nicht gelernt, sich selbst zu organisieren“. So blieb die Frage, was denn der Westen vom Osten lernen könne, völlig offen. Kein Wunder, wie Bert Thinius meinte, denn „im Westen hat niemand ein Interesse, diese Frage überhaupt zu stellen“.