Eine Sprache, die Licht braucht

■ »Gebärdenrock« von und mit Gehörlosen (und für sie) am ersten Weihnachtsfeiertag im SO 36

Auf den ersten Blick ist alles wie immer. Die Musik dröhnt in einer Lautstärke, die meine Magensäure über kurz oder lang gefährlich aktivieren wird, und hinter einem gigantischen Mischpult tanzt der DJ mit seinen Kopfhörern Blues. Ansonsten gähnt die Tanzfläche des SO 36 angesichts der frühen Abendstunde noch schlaftrunken. Business as usual. Wer jetzt schon da ist, und es sind einige, denkt noch nicht ans Tanzen. Man fängt sich ein Becks an der Theke und einen Gesprächspartner im Umkreis. Man plaudert ein wenig über die vergangenen Festtage und wippt schon mal probeweise rhythmisch mit dem rechten Fuß. Disco-Alltag. Nix Neues im »Esso«?

Und doch ist etwas anders. Da ist zunächst einmal diese besonders freundliche Stimmung, die Neuankömmlinge schon an der schweren Stahltür empfängt. Kaum merklich schwirrt sie durch den Raum und zaubert selbst dem coolsten Eckensteher ein freundliches Lächeln in die Mundwinkel. Dann ist da diese vage Helle, die ohne Geflimmer und Spotlightshow auskommt und ein neugieriges Inaugenscheinnehmen diskret ermöglicht. Und die vielen Gespräche quer durch den Raum, Plaudereien an der Theke, Kolportagen im größeren Kreisrund. Flirtendes Antasten face to face, gemütliches Herumhängen an den wenigen Tischen. Die Gäste lassen sich von den dröhnenden Baßboxen nicht unterkriegen. Denn der »Gebärdenrock« im SO 36 ist eine Party für Gehörlose. Unterhaltungen finden hier in Gebärdensprache statt, und die benötigt keine Stille, die braucht Licht.

Viele Gespräche beginnen mit einem kurzen freundlichen Schulterklopfen, denn logischerweise läuft die Kommunikation unter Gehörlosen über den Augenkontakt. Und so steht man in lockerer Runde beieinander, plaudert mit flinken Fingern, lacht, scherzt und amüsiert sich. Hier vergräbt sich keine Hand mißmutig in der Hosentasche. Im Gegenteil: wo nötig, wird auch schon mal die Bierflasche beiseite gestellt, um zweihändig zu erzählen. Temperamentsunterschiede manifestieren sich in mehr oder weniger ausladenden Gesten, die zuweilen — und wenn's der Platz hergibt — in ausgelassene Akrobatik münden.

Die akkustische Unabhängigkeit hat ihre Vor- und Nachteile: Grundsätzlich verbietet sich hier jede Art von Häme oder privatem Getuschel; denn was immer gesprochen wird, es ist für andere selbst über größere Entfernungen noch gut zu verstehen. Dafür begrüßt man sich im ohrenbetäubenden Zivilisationskrach internationaler Popmusik lässig über sämtliche Köpfe hinweg: »Hallo! Schön, daß Du da bist!« Und dann ein Zeichen in Richtung Bar: »Zwei Becks, bitte!«.

Daggi vom SO 36 hat heute Abend Thekendienst. Phantasievoll im Erfinden ihrer eigenen Gebärdensprache verkauft sie das Bier mit Händen, Kopf und Witz. Nickt oder schüttelt bestimmend ihr Haupt, winkt her, winkt ab. Typische Handbewegung: Finger nach oben, Daumen angelegt. Denn ein Becks kostet vier Mark, das läßt sich gut handgreiflich darstellen. Aber wie, verdammt, geht nur das Symbol für »Pfand«? Wohlwollend und geduldig warten die Gäste am Tresen, und wenn gar nichts mehr geht, helfen Papier und Stift über letzte Verständigungsgrenzen hinweg.

Die Musikanlage des SO 36 wurde eigens für die Anforderungen des heutigen Abends umgerüstet. Vier riesigen Bassboxen dominieren zwei sich ergebende Hochtöner, und der Sound ist heute noch rhythmuslastiger als sonst. Denn Gehörlose nehmen Geräusche ausschließlich über die im Raum entstehenden Schwingungen wahr. Während die fetzige Musik in meiner Bauchgegend nur ein diffuses Grummeln erzeugt, sind die Sinne von Taubstummen wesentlich sensibler und zudem professionell geschult. Wer die Leute auf der Tanzfläche zu den schrillen Rhythmen des DJ Rolands abhotten sieht, mag nicht glauben, daß hier kaum jemand die Musik akkustisch aufnehmen kann.

Die wenigen hörenden Partybesucher unter den Gästen verraten sich schnell durch ihre orthopädisch wagemutige Kopfstellung. Eng an seinen Gesprächspartner gedrängt, muß sein Ohr langhalsig verleihen, wer sich akkustisch verständigen will. Das ist ausgesprochen beschwerlich und zudem wenig kommunikativ. Während ich Karin mühsam in ihr sowieso schon überlastetes Hörorgan brülle, muß sie zwangsläufig in eine andere Richtung starren, und schon ihre Freundin Sonja versteht nicht mehr, was ich gefragt habe. Die beiden sind aus Neugierde hierher gekommen und begeistern sich für die unerwartet nette Stimmung: Daß sich die Leute hier offen ins Gesicht sehen, anstatt cool aneinander vorbeizuglotzen, finden die beiden durchaus nachahmenswert. Ivan und Fernando hat die Gewohnheit ins SO 36 getrieben. Sie sind Stammgäste des Hauses, und finden es »voll ok, daß die sich hier treffen!«.

Mein baßliches Magengrummeln ist inzwischen in Appetit umgeschlagen. Kurzerhand schlendere ich quer über die immer noch weitgehend leere Tanzfläche und steuere den Sandwich-Stand an, hinter dem ein junger Mann geschäftstüchtig schmackhafte Eibrote feilbietet. Der gutgelaunte Eierverkäufer möchte sich gerne ein bißchen mit mir unterhalten. »Sorry, ich kann leider die Gebärdensprache nicht!« schreibe ich ihm entschuldigend auf einen Zettel und komme mir schon wieder ziemlich eingeschränkt vor. Bedauernd reicht er mir den Block zurück: Mein Gegenüber ist Jugoslawe. In der grenzübergreifenden Gebärdensprache kann er sich auf der ganzen Welt verständigen, aber gehandicapt wie ich nun mal bin, verstehe ich ja nur deutsche Schrift. Und da muß er leider passen.

Gegen Mitternacht ist im SO 36 der Damm der Schüchternheit dann endgültig gebrochen. Die Tanzfläche füllt sich zusehends mit begeisterten Tänzern, und inspiriert zieht funky Roland die Regler noch ein wenig mehr auf. Au weia! Das macht ein ungeübtes Trommelfell nun wirklich nicht mehr mit. Bevor sich mein malträtiertes Gehör bis auf weiteres verabschiedet, entfliehe ich lieber mit leichtem Ohrensausen diesem netten Weihnachtsabend. Schade eigentlich. Zuweilen kann der Zwang zum Hören eine echte Behinderung sein. Klaudia Brunst