DEBATTE: UTOPIA ROT-GRÜN
: Streitkultur als Selbstzweck?

■ Weder Renate Künast (Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne) noch Hans Kremendahl (SPD-Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie) mögen daran glauben, daß es in absehbarer Zeit wieder eine SPD/AL-Koalition geben wird

Am 15. November 1990 war die Berliner rot-grüne Koalition offiziell beendet, zwei Wochen später beantworteten die WählerInnen die »Sonntagsfrage«, indem sie den ehemaligen Koalitionspartnerinnen miserable Wahlergebnisse bescherten. Ohne den eigenen Anteil der Berliner Grünen und der SPD am Wahldebakel unter den Scheffel stellen zu wollen, der Einbruch bei den Wahlen am 2. Dezember war zum Teil einer »Themenverschiebung« geschuldet. Hier wählte nicht eine mehr oder weniger satte Bundesrepublik mit seit Jahrzehnten eingespielten Politikmechanismen, deren Bevölkerung zum Beispiel dem Umweltschutz hohe Priorität einräumt. Vielmehr standen die deutsch-deutschen Entwicklungen, Ängste und Unberechenbarkeiten im Vordergrund des Interesses. Nach dem Motto »Wenn die D-Mark nicht kommt, gehen wir zu ihr« wurde der »Kanzler der Einheit« gewählt. In dieser Zeit der bundesweiten Themenverschiebung machten die Grünen einen rein ökologischen Wahlkampf mit einem sogenannten Klimazug, der die drohende Klimakatastrophe thematisierte. Deutlicher kann eine Partei nicht neben den aktuellen Bedürfnissen, Hoffnungen, aber auch Sorgen und Ängsten in diesem spezifischen Zeitraum liegen. Wer einem nun mal stattfindenden Eilprozeß ablehnend gegenübersteht, darf sich nicht wundern, wenn die WählerInnen ihm bei der Regelung der anstehenden Fragen kaum Kompetenz zutrauen. Es nützt nichts, nachträglich Recht zu bekommen, wenn jetzt genau die von Grünen und anderen aufgezeigten Probleme doch eingetreten sind.

Trotz der Zusammenlegung der Bundes- und Berliner Wahl, das Ergebnis war auch Ausdruck der massiven Kritik an der Art des Politikmachens der rot-grünen Koalition.

Mit nahezu grenzenloser Naivität stürzte sich die AL in das Geschäft des Regierens, ohne eine grundsätzliche Debatte in ihrer Mitgliedschaft über Möglichkeiten und Grenzen einer Koalition geführt zu haben.

Die AL hatte seit ihrem Einzug ins Parlament 1981 immer wieder bekräftigt, daß Parlamentsarbeit nur das Spielbein der Partei sei. Nun hatte die Partei Regierungsverantwortung übernommen und stand völlig neuen Fragen gegenüber.

Tapfer nahm die Koalition zwar die ersten Klippen des Hungerstreiks, des 1. Mai 1989 und erklärte geduldig den neuen und anderen Politikansatz, schon aber rächte sich die fehlende grundlegende Debatte über Möglichkeiten und Grenzen einer Koalition. Wie funktioniert politische Entscheidungsfindung im Rahmen einer Regierungsbeteiligung, in welchem Geflecht zwischen Industrie, Alliierten, Kochstraße, ADAC... kann wie agiert werden, war für die AL kein Thema. Wer darauf hinwies, geriet schnell in den Ruf, nicht radikal genug zu sein.

Regelmäßige MVV-Beschlüsse, mit denen am gleichen Tage einerseits die Fortsetzung der Koalition beschlossen, andererseits ein neues Thema zum Essential über deren Fortsetzung gemacht wurde, wurden zum Ersatz fehlender außerparlamentarischer Bewegung und engten die Handlungsspielräume des grünen Teils der Koalition ein, statt ihn zu stärken. Empfindlich reagierte die Partei auf jeden Druck von Teilen ihres politischen Umfelds.

Phasenweise war die AL nicht mehr als der verlängerte Arm politischer Bewegungen in der Stadt. Es gelang nicht, die verschiedenen Interessen zu einem Reformprojekt zu bündeln und sich zwecks Verwirklichung eines inhaltlichen Paketes ein Stück Selbständigkeit gegenüber Einzelforderungen des gesellschaftlichen Umfeldes zu erarbeiten.

Die gute alte Tante SPD war's phasenweise einfach zufrieden, wieder am Senatstisch zu sitzen, suchte die Ruhe im Blätterwald und die Großinvestoren für billig abzugebende Grunstücke in zentraler Lage, alles andere stünde man öffentlich nicht durch, war die gebetsmühlenartig vorgetragene Begründung für politisch defensives Verhalten.

Streitkultur als Mechanismus einer Gesellschaft, Konflikte zu bewältigen, als Versuch eines anderen Umgangs mit gesellschaftlichen Konflikten, als Teil von mehr direkter Demokratie, fand zu Zeiten der rot-grünen Koalition nicht statt; hätte aber zentrales Stilmittel des Reformprojektes sein sollen und müssen.

Statt dessen wurde um der innerparteilichen Befindlichkeit wegen von Streitkultur geredet, aber nie eine entwickelt, die diesem Namen gerecht wird. Statt eines offenen gesellschaftlichen Diskurses wurde daraus eine Reduzierung auf die öffentliche Austragung innerparteilicher und innerkoalitionärer Streitigkeiten, die allerdings oft genug hilflose Reaktion auf eine arrogante, autoritäre und unbewegliche SPD war.

So gehörte es zu den größten Fehlern beider Parteien, existente gesellschaftliche Mehrheiten zum Beispiel für eine neue Verkehrspolitik und andere ökologische Themen nicht zu einem längerfristig tragenden Element der Koalition ausgebaut zu haben. Der Blickwinkel verengte sich bei beiden auf die laufenden internen Kämpfe und die Überschriften der Zeitungen des nächsten Tages. Schon vor dem Ende des ersten Koalitionsjahres kam der 9. November, die innerkoalitionäre Stimmung ging einer Klimakatastrophe entgegen; die Grünen störten nun sichtlich beim Regieren. Ein Zeitpunkt, über den Momper heute schreibt, man hätte die Koalition dort beenden müssen. Zu Ende war sie mit dem (Aus-)Verkauf des Potsdamer Platzes an Daimler, der äußere Anlaß folgte mit der Mainzer Straße. Der 9. November war inhaltlicher Wendepunkt für den Versuch einer rot-grünen Reformpolitik; jetzt waren nur noch das Management und die Verwaltung gefragt, um Massenbewegungen zu transportieren, zu finanzieren... Ein Prozeß, der einschließlich der Staatsvertragsabschlüsse in weitesten Teilen nach Prinzipien ablief, die den Positionen der AL diametral entgegenstanden. Ein rot-grünes Reformprojekt stand am 2. Dezember nicht zur Wahl. Dies lag weniger daran, daß die AL die Koalition am 15. November verlassen hatte, als daran, daß für Inhalte und Themen dieses Projektes nicht mal im Gepäckwagen des Schnellzuges »Einheit« ein lausiges Plätzchen vorgesehen war.

Ein neues Reformprojekt für Berlin. Mag sein, daß in diesen Zeiten nur satte Mehrheiten nicht an der Fülle der zu bewältigenden Probleme zerbrechen. Aber die in sie gesetzte und auch selbst produzierte Erwartung, nur eine große Koalition würde massive Unterstützung aus Bonn erhalten, hat sie nicht erfüllt.

In dieser Stadt werden wieder Weichen gestellt: entweder »back to the fifties« oder ein ökologischer Stadtumbau und demokratische Rechte für alle, werden in Angriff genommen. Die Politik des letzten Jahres zeigt den BerlinerInnen die reale Gefahr einer zunehmenden Verdrängung aus ihrer Stadt — Mieten steigen; Großinvestoren verdrängen Kleingewerbetreibende; Verluste an Grün- und Erholungsflächen sowie eine ständig zunehmende Schadstoffbelastung verschlechtern spürbar die Lebensqualität. Abstrakte Beschwörungen von Freiheit und Einheit ziehen da nicht mehr. Die Menschen sind wieder auf der Erde — zum großen Teil nach harter Landung —, da wächst die Nachfrage nach einer ökologischen, antipatriarchalischen und demokratischen Politik. Für einzelne Politikbereiche gibt es auch heute rot-grüne Mehrheiten. Es gilt, diesen Anspruch wieder aufzugreifen und daraus rechnerische und/oder gesellschaftliche Mehrheiten zu machen. Die SPD wird lernen müssen, daß Politik mehr ist als verbale Bekenntnisse, Verwalten und Investoren bedienen. Sie wird daran arbeiten müssen, nicht durch die Aufgabe eigener Positionen durch eine große Koalition quasi koalitionsunfähig für Grüne zu werden; nicht zuletzt werden sie bei uns keine Mehrheitsbeschafferin für nur sozialdemodratische Politik finden. Die Grünen/AL müssen realisieren, daß auch Regierungen im Parlament nur ein Spielbein haben: Das Standbein muß die in Einzelfragen überzeugte und zu überzeugende gesellschaftliche (nicht nur rechnerische) Mehrheit sein. Renate Künast