In Deutschland wächst die Armut

■ DGB: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist auf 4,2 Millionen angestiegen/ Immer mehr junge Menschen ohne Ausbildung leben an der Armutsgrenze/ Zahl der Obdachlosen nimmt zu

Hamburg (dpa) — In der Bundesrepublik Deutschland leben immer mehr Menschen am Rande des Existenzminimums. Zur Zeit sind nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) rund 4,2 Millionen Menschen auf Sozialhilfe angewiesen — vier Millionen in den alten und über 200.000 in den neuen Bundesländern: Tendenz zunehmend. Damit stieg die Zahl derjenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus eigener Kraft bestreiten können, innerhalb von 20 Jahren um mehr als das Zweieinhalbfache. Die Kosten für die Hilfe verzehnfachten sich von 2,9 Milliarden im Jahr 1969 auf 31,6 Milliarden Mark 1990.

Als arm gilt in der Bundesrepublik gegenwärtig, wer ein Nettoeinkommen von weniger als 530 Mark monatlich hat. Wer dieses Existenzminimum nicht mehr selbst erarbeiten kann, hat Anspruch auf Sozialhilfe. Die Entwicklung der Sozialhilfeempfänger-Zahlen belegt nach Einschätzung des DGB, daß „in der reichen Bundesrepublik die Armut auf dem Vormarsch“ ist.

Dabei rutschen immer mehr Bevölkerungsgruppen in die Verelendung ab, die aus dem Teufelskreis „keine Arbeit, keine Wohnung — keine Wohnung, keine Arbeit“ nicht mehr herausfinden.

Während es früher vor allem kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Behinderte und alte Menschen gewesen seien, so seien heute auch immer mehr Ausländer, alleinstehende Männer und Frauen und vor allem auch junge Menschen davon betroffen, sagt Hermann-Josef Ihle vom Caritas-Verband Stuttgart: „Die Zahl derer, die nicht mehr mitkommen, nimmt zu.“ Allein in Schleswig-Holstein habe sich die Zahl der Hilfebezieher von 1978 bis 1989 verdoppelt, so das dortige Sozialministerium. 1989 erhielten 175.000 Menschen staatliche Unterstützung, rund 6,7 Prozent der Bevölkerung.

Nach Angaben Ihles hat der jüngste Armutsbericht in Stuttgart gezeigt, daß ältere Witwen nicht mehr an erster Stelle unter den Armutsgefährdeten stehen. „In weit höherem Maß sind junge Menschen betroffen, die in der Gesellschaft keinen Fuß auf den Boden kriegen, junge Menschen ohne ausreichende schulische Bildung und Berufsausbildung.“ Die Tatsache, daß es in der Wirtschaft immer weniger Stellen für ungelernte Arbeitskräfte gebe, mache es für sie besonders schwer.

Ein Sprecher des Sozialamts Duisburg bestätigte diese Entwicklung: „Es gibt hier 25jährige, die haben noch nie gearbeitet, und die bekommen auch niemals einen Job.“ In Freiburg sind 30 Prozent der Hilfebezieher jünger als 30 Jahre, in den neuen Bundesländern ist sogar jeder zweite jünger als 25 Jahre.

Für den Leiter des Freiburger Sozialamtes, Prof. Hans Peter Mehl, ist die „Zweidrittel-Gesellschaft“, das heißt zwei Dritteln geht es gut, ein Drittel lebt an der Armutsgrenze, schon „Realität — eine Entwicklung, die erschüttert“.

Das Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost spiegelt sich besonders drastisch in der Zahl der Armutsgefährdeten. Während in München und Frankfurt/Main jeder zehnte Bürger an der Grenze des Existenzminimums lebt, ist von den 2,6 Millionen Einwohnern Brandenburgs nach Angaben von Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD) bereits knapp die Hälfte davon betroffen.

Am deutlichsten zeigt sich die Entwurzelung an den Obdachlosen, deren Zahl ebenso gestiegen ist; nach Untersuchungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Nichtseßhaftenhilfe in den vergangenen drei Jahren um mindestens 20 Prozent. Die Menschen, die heute ohne festes Dach über dem Kopf leben, schätzt die Organisation auf rund 150.000. Dabei hat der Anteil von Frauen enorm zugenommen. Nach einer Studie des Bundesfrauenministeriums leben in Westdeutschland derzeit etwa 50.000 alleinstehende Frauen ohne eigene Wohnung, davon 13.000 buchstäblich auf der Straße. Hinzu kommen etwa 12.000 Bewohnerinnen von Frauenhäusern, die ebenfalls vom Verlust der eigenen vier Wände betroffen sind. Der gesellschaftliche Ausgrenzungsprozeß ist enorm: „Obdachlose sind nicht nur finanziell arm, sondern auch arm an sozialen Kontakten“, so ein Hannoveraner Sozialarbeiter.