Noch für viele Überraschungen gut

■ BürgerrechtlerInnen konnten gestern in Berlin erstmals ihre Stasi-Akten einsehen

Berlin (taz) — Obwohl Gerd Poppe nicht zum ersten Mal mit der Stasi-Vergangenheit konfrontiert wurde, erlebte er gestern dennoch eine Überraschung. Auf rund 200 Schreibmaschinenseiten seien ihm „vier bis fünf“ inoffizielle Mitarbeiter namentlich untergekommen, die ihm bisher unbekannt gewesen seien. Ganze fünfzig Ordner hatte die Stasi im Laufe der Jahre über ihn und seine Frau angelegt. Poppe konnte gestern — zusammen mit weiteren Prominenten aus der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung — seine Stasi-Akten nach Inkrafttreten des Stasi-Unterlagengesetzes einsehen. Poppe erklärte, über manchen Vorgang, etwa über Treffen von Gruppen, lägen gleich mehrere Berichte vor. Er betonte die Notwendigkeit, sich mit der Stasi- Vergangenheit durch das Einsehen der Akten auseinanderzusetzen.

Dies müsse schon allein deshalb geschehen, damit die Spekulationen aufhörten. Ebenso wie der Schriftsteller Lutz Rathenow kritisierte Poppe allerdings die Bestimmungen des im Dezember vom Bundestag verabschiedeten Stasi-Unterlagengesetzes. Es sei ein Fehler, die schutzwürdigen Interessen von Personen in den Akten zu weit zu interpretieren. Dann könne es geschehen, daß manche Akten nur noch mit geschwärzten Namen vorgelegt würden.

Der westdeutsche Soziologe Manfred Wilke, der 1976 das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ gegründet hatte, berichtete, daß viele Telefonate mit Robert Havemann sich wortwörtlich in den Akten wiederfänden. Außerdem habe er festellen müssen, daß die Stasi ab 1978/79 die CDU und den Verfassungsschutz „munitioniert“ habe, um gegen ihn vorzugehen. Vera Wollenberger betonte, ihr sei klar geworden, wie vorsichtig mit den Akten umgegangen werden müsse. Vieles sei zum Teil eine „ganz gefährliche Mischung aus Dichtung und Wahrheit“. Poppe und Rathenow sagten, an der Echtheit der Akten bestehe bisher kein Zweifel. Poppe prophezeite denjenigen, die ihre Akten einsehen wollen: „Wir werden alle noch sehr viele Überraschungen erleben.“ sev