Eine Leiche im Sozialamt

■ Ein neuer verwirrender Berlin-Krimi von -ky: »Ich wollte, es wäre Nacht«

Am Ende kriegen alle, was sie verdient haben: Die Rachefeldzüge sind geschlagen, alle Mordfälle aufgeklärt und viele Gläser geleert. Und -ky, der immerhin beständigste deutsche Lieferant einschlägiger literarischer Fälle, bleibt mit seinem — wenn ich richtig gezählt habe — achtzehnten Krimi (die Kollaboratorien mit Steffen Mohr beziehungsweise Peter Heinrich gar nicht mitgezählt, auch in dieser Beziehung bei seinen Leisten.

Ich wollte, es wäre Nacht heißt sein neuester Roman. Waterloo, Wellington und die herbeigesehnten Preußen spielen darin allerdings keine Rolle. Höchstens die Eishockey-Preußen und auch die bloß am Rande als Denkhilfe für den Schlaumeier Mannhardt, früher Bulle, jetzt Lehrbeauftragter für Kriminalistik. -ky schleppt ihn wieder einmal nach Berlin, um ihn dort eine knifflige Aufgabe lösen zu lassen.

Der Fall liegt eigentlich ganz einfach, nämlich als bereits verweste und zum Himmel stinkende Leiche mitten in einem Berliner Sozialamt. Bis die auf Seite 86 entdeckt und damit überhaupt erst Thema wird, haben wir bereits einen sozusagen vordergründigen Fall in all seinen wirklich spitzbübisch eingefädelten Einzelheiten mitverfolgen dürfen. Denn auf Seite 17 stolpert jenes Pärchen, dem wir auf den folgenden hundertdreiundsiebzig Seiten unsere gesamte Sympathie schenken werden, über die erste Leiche: »Gleichermaßen zusammengekrümmt wie hingestreckt am Fuße seiner Aluleiter« liegt dort der Rentner Herbert Dolgenbrodt aus Frohnau, tot, versteht sich, und das macht seinen Pflegern und Mitbewohnern Joana und Gottfried schwer zu schaffen. Die beiden sehen sich gezwungen, den guten Onkel Herbert im Rasen zu vergraben, denn wie, zum Teufel noch mal, sollten sie sonst weiterhin von seiner Rente profitieren?

Zwei offensichtlich Tote also, und -ky versucht nun eine ganze Weile lang, uns weiszumachen, daß die beiden Fälle nichts miteinander zu tun hätten. Er tut das so gewieft, daß uns das Licht beim besten Willen nicht aufgehen will. Abgelenkt von den Streifenfahrten eines aufregend ungleichen Polizeipärchens, das hilflos durch die Mordfälle taumelt, von mysteriösen Vorgängen im Sozialamt, wo tagtäglich der allseits beliebte deutsche Kampf »Beamter gegen Unterschicht« tobt, und von einer Flut geschickt gestreuter Informationen aus -ky's Ordner »Zu Geschichte und Biographie der Berliner S-Bahn«, sind wir, um die Zusammenhänge nicht ganz aus den Augen zu verlieren, letztendlich doch auf die Grübelarbeit des alten Mannhardt angewiesen. Die Lösung ist, um es vorwegzunehmen, konsequent und moralisch einwandfrei.

Hinter all diesen Geschichten könnte man wieder einmal den deutschen Soziokrimi mit gut abgehangenem Thesenhaushalt, fest zementierter Sozialordnung und entsprechend einfallsloser Charakterzeichung vermuten, als ordnendes Prinzip sozuagen. -ky ist der Falle jedoch entkommen. Er verläßt sich bei Ich wollte, es wäre Nacht mehr auf seine Phantasie als auf seinen Zettelkasten, ohne dabei den Berliner Boden unter den Füßen zu verlieren. Seine Figuren zwischen den Currybuden des Nordens und den S-Bahnhöfen in Wilmersdorf sind frei erfundene Exemplare durchaus existenter Rudel: Sie sind glaubhaft, weil sie unglaubliche Sprüche klopfen; sie sind lebendig, weil sie todsicher ihre Fehler machen; sie sind reizend, weil sie stinkende, picklige, qualmende und saufende Kotzbrocken abgeben.

Die mit hochwertiger Phantasie angereicherte Variante des Realismus war schon immer die beste — für seine Sozialamtsadresse ist -ky immerhin soweit gegangen, mit der »Farchanter« eine neue Berliner Straße zu erfinden. Ein Name, der an authentischem Klang nichts zu wünschen übrigläßt und eine Aufgabe, mit der sich in Berlin zur Zeit eigentlich ganz andere rumzuschlagen hätten. Von echter Könnerschaft zeugt darüber hinaus -ky's Fähigkeit, die Spannung einer Geschichte, deren Lösung dauernd in greifbarer Nähe zu liegen scheint, bis weit über Seite 150 hinaus aufrechtzuerhalten.

-ky schreibt inzwischen in einer Klasse mit Amerikanern wie Ed McBain oder Bill Granger, Schriftstellern, die nicht mehr in den Hitlisten auftauchen, weil sie weder literweise Blut vergießen noch Psychopathen zu Dutzenden erfinden und schon gar keine CIA-Gangster und KGB-Mafiosi aufeinanderhetzen, sondern mit verblüffender Regelmäßigkeit gute Kriminalromane abliefern. Günther Grosser

-ky: Ich wollte, es wäre Nacht ; Roman, Rowohlt Verlag, 190 Seiten, 8,80 DM