Nachschlag ohne Sahnehäubchen

■ Die letzten Premieren des alten Jahres: Heiner Müller, Robert Wilson und zwei Komödien-Versuche

Heiner Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei ist eine Szenencollage aus fragmentarischen Biographien historischer Persönlichkeiten. So sieht man neben einem zum Narren degradierten Akademiepräsidenten Grundling Szenen aus dem Leben Friedrichs II. (zum Beispiel die Erschießung seines Freundes Katte), Heinrich von Kleist, der sein Stück Michael Kohlhaas spielt und sich dann umbringt sowie Lessing mit den Figuren Nathan der Weise und Emilia Galotti.

Durch ein nicht existierendes Bühnenbild von Helmut Brade erhält man im Maxim-Gorki-Theater Einblick in die Seilzuganlage und den technischen Apparat im Bühnenhintergrund. In diese Werkstattatmosphäre wird durch das Plazieren von Tischen, Stühlen oder Schränken der zeitliche Bezug hergestellt. Die Schauspieler/innen treten in billigen Kopien historischer Kostüme auf, sagen ihren Text, versuchen sich in Tragik und treten wieder ab. Auf einer Projektionsfläche kann man zwischendurch Filme sehen, wie etwa Luftaufnahmen des zerbombten Berlin, die auch nach der sechsten Wiederholung nicht spannender werden, oder Nahaufnahmen aller Schauspieler/innen, die auch durch Anzahl und Dauer nicht an ästhetischer Erfreulichkeit gewinnen.

B.K. Tragelehn

Die Regie von B.K. Tragelehn zieht zwischen Kitsch und Dilettantismus alle Register niveauloser Peinlichkeiten: die Bauern sind natürlich strohdumm, die Chorknaben gestriegelt, Friedrich (wenn auch gleich zweifach falsch besetzt) rheumatisch verkrümmt, Kleist ein Tier mit Filmblut und Konfetti — und der letzte Präsident der USA ein Computer mit blinkenden Lämpchen (und Pink Floyds Welcome to the Machine als Hintergrundmusik).

Dabei findet so etwas wie Regie noch nicht einmal wirklich statt, denn die Darsteller wirken so farblos, so unmotiviert, wie man es sonst nur auf kleinstädtischen Provinzbühnen erlebt. Und sonst steht sowieso alles schon bei Müller schwarz auf weiß — folglich, und um auch nicht erst nachdenken zu müssen, bringt Tragelehn es auch genau so auf die Bühne: ohne Distanz, ohne eigene Ideen, ohne Brechung, ohne Regiearbeit.

Klinisch atmende Herzen

In dem Stück Die Krankheit Tod von Marguerite Duras mietet sich ein Mann für mehrere Tage die Liebesdienste einer Frau. Doch begehrt er sie nicht, er beobachtet und benutzt sie nur. In seinem Herzen steckt der Tod, nicht als physisches Leiden, sondern als psychischer Zustand. So beschränkt sich die Kommunikation auf Frage und Antwort. Eine Annäherung findet nicht statt. Bevor der Mann die Frau vielleicht umbringt, flieht sie, und er ist einsam wie zuvor.

In der Schaubühne hat Robert Wilson einen Raum geschaffen, der hauptsächlich aus graphitbemalten Segmenten eines Rechtecks besteht. Diese können vertauscht und verschoben werden. Manchmal fehlen auch einzelne Teile, um den Blick auf den Horizont dahinter freizugeben.

Peter Fitz im langen dunklen Mantel und Libgart Schwarz im hellen Kleid mit langer Schleppe (Kostüme: Frida Parmeggiani) schreiten langsam und bedächtig durch den Raum. Ihre Sprache besteht aus indirekter Rede in der dritten Person, die auch den Wechsel der Rollen erlaubt. Ihre Bewegungen sind stilisiert, wirken wie Relikte vergangener Zeiten, fließen und stehen still.

Die kühlen, mit Distanz in der Stimme gesprochenen Worte werden von der traurigen Musik von Hans Peter Kuhn untermalt. Unterbrochen werden sie durch Möwenschreie, Brandungsrauschen und Computersignale. Eine Kerze erlischt, um später erneut zu brennen, ein aufrecht stehendes Brett wird durch Mechanik zu einem Kirchenstuhl, und ein Riß zieht sich wie von Geisterhand mitten durch die Luft. Das Licht zeigt nur Gegenstände und Gesichter, der Körper ist nur Träger des Kopfes. Zum Schluß ist die Bühne gleißend weiß. Ein Hinweis auf das Sterben oder ein Neubeginn nach dem Tod?

Robert Wilson hat ein Requiem für die Liebe inszeniert, eine Meditation über die Unmöglichkeit, einander näherzukommen. Leidenschaft oder Emotion finden nur im Gehirn statt, unterstützt durch die Sinne. Der Tastsinn aber existiert nicht, die Körperlichkeit endet am Halsansatz. Die Offenbarung, daß letzten Endes jeder Mensch allein ist, bestimmt dieses Spiel.

Die Krankheit Tod ist in der Inszenierung von Robert Wilson eine zeitlose philosophische Studie, der eine Atmosphäre von klinischer Sterilität anhaftet. Theater zum Denken und nicht zum Anfassen.

Ein windige Geschichte

Ein Boulevardstück, in dem reihenweise Frauen — aus Versehen — sterben und die Männer sich als vollkommene Trottel erweisen, die sich selbst nicht zu helfen wissen und alles verpatzen? Szenen, voller Situationskomik und grotesker Charakterbilder, schnell gespielt und mit der ganzen Palette des Slapstick dargeboten?

Ja, das alles hätte Meine Leichen, deine Leichen von Royce Ryton sein können. Statt dessen gab es aber die Theater AG der Oberstufe zu Gast im Hebbel-Theater (das diese Produktion auch gefördert hat). Der angebliche Regisseur Ludger Pistor spielt natürlich auch die Hauptrolle des mordenden Krimiautors. Seine nicht vorhandene Komik versucht er durch leises, schnelles Sprechen mit einem bravourösen (aber leider echten) S- Fehler wettzumachen. Vergeblich.

Seine Ehefrau (Julia Bremermann) bleibt wunderbar blaß, da sie ja sowieso nach wenigen Minuten stirbt. Der hilfsbereite Polizist (Alexander Bußmann) scheint seine Rolle bei den Beamten der Deutschen Bundespost abgeguckt zu haben, denn er spielt fadlinig unmotiviert. Amelie zur Mühlen als Schwiegermutter dagegen könnte sicher erstaunlich lebendig in ihrer Rolle sein, doch leider geht das Sterben vor. Aber Sigurd Bemme als Agent bekommt die Chance zum längeren Verweilen, und er nutzt sie auch. Nicht nur, daß er die nötige Bühnenpräsenz hat, er spielt auch die Möglichkeiten der Rolle mit ihrem Wortwitz aus und zeigt Profil. Georg Bischoff wiederum als Hauseigentümerin scheitert bei dem Balanceakt zwischen dem tuntigen Mann und der transsexuellen Frau: man konnte sich vielleicht nicht recht entscheiden, und so bleibt nur ein Mann in Frauenkleidern mit tiefer Stimme und Perücke.

So plätschert das Geschehen bis zur Pause dahin — und der Rezensent verläßt das Theater mit der Feststellung, daß die vom Ensemble »Voila« angekündigte »Verbindung zwischen klassischem Theater und Boulevard« sich als grobe Scharlatanerie entpuppt: Denn es gab weder gekonntes Boulevard noch überzeugendes Theater zu sehen, ganz zu schweigen von einer Verbindung. Traurig, traurig.

Zäh wie Stroh

Der Florentinerhut von Eugene Labiche ist eine gern und oft gespielte Komödie, in der die geschilderten Personen und Situationen normalerweise sofort Schadenfreude und Gelächter hervorrufen. Man verfolgt als Zuschauer den mühseligen Weg des Bräutigams Fadinard, der verzweifelt versucht, durch die Beschaffung eines Hutes einen Skandal zu vermeiden. So tappst er bei dieser Jagd, verfolgt von der Hochzeitsgesellschaft, von einem Fettnäpfchen ins nächste. Es kommt zu Verwechslungen, Drohungen, und immer scheint seine Hochzeit gefährdet. Doch zum Schluß gibt es dann das wohlverdiente Happy-End mit Hut.

In der Bearbeitung von Manfred Wekwerth am Berliner Ensemble wird das Stück ohne Streichungen gespielt. Der Text wurde teilweise neu übersetzt und mit einigen modernen Kraftausdrücken versehen, was aber in beiden Fällen keine Bereicherung darstellt.

Die Bühne von Andreas Reinhardt, in den Farben Blau und Weiß gehalten, besteht nur aus freistehenden Türen in jedweder Größe und Machart. Durch die Nutzung der Drehbühne erhält man Einblicke in die Hinterzimmer, und Verfolgungsjagden gelingen rasant.

Wekwerth/Gisela May

Regisseur Manfred Wekwerth hat alle Rollen, bis auf die Fadinards und des Sängers Vitus, mit Frauen besetzt. Dadurch verliert das Stück nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern auch an Komik, und die Frage nach dem Sinn einer solchen Entscheidung stellt sich augenblicklich ein. Überdies sind fast alle Rollen zu alt besetzt, was nicht gerade den lockeren Schwung dieser Komödie unterstützt. Die Darstellerinnen sind zwar alle bemüht, doch scheinen sie in ihrer Spielfreude eher gebremst als gefördert zu sein. So wirken viele Textpassagen trocken und die Situationen ohne Sinn für Komik konstruiert. Die sonst vorprogrammierten Lachsalven bleiben naturgemäß aus, trotz des schnellen Spiels trottet das Stück dahin.

Doch immerhin sorgen Gisela May als Baronin von Champigny und Martin Seifert als Fadinard für die köstlichste Szene des Abends, wenn sie ihm die Blumen ihres Dekolletés schenkt und er auch das, was darunter ist, mitnehmen möchte (wobei er hartnäckig von einem Hut spricht). Und auch das anschließende bäuerlich-derbe Försterlied der Hochzeitsgesellschaft ist hundertprozentig gelungen.

Alles in allem ist diese Komödie trotz der unverständlichen Eingriffe der Regie sehenswert, kann sich aber mit der Produktion am Schloßpark- Theater vor zwei Jahren in keinem Fall messen. York Reich