Viel Hitze, aber kein Licht

Indiens Militärausgaben haben die Wirtschaft des Landes ruiniert  ■ Von Chris Smith

Ein bekannter Indienexperte hat einmal bemerkt, daß die jährliche Verteidigungsdebatte im indischen Parlament zwar viel Hitze produziere, jedoch kein Licht. Tatsächlich ist, daß das Thema nationale Sicherheit ein höchst emotionales ist und Entscheidungen in diesem Gebiet kaum hinterfragt werden, obwohl die spärlichen Devisen zum großen Teil für die Einfuhr von Rüstungsgütern ausgegeben werde.

In der riesigen und komplexen Arena indischer Politik wachen Presse und Experten mit Argusaugen über das Verhalten des Staates; die Öffentlichkeit reagiert außerordentlich prompt auf Verletzungen der demokratischen Norm jenseits eines allseits akzeptierten Levels. Trotz ihrer großen Popularität war es selbst Indira Ghandi nicht möglich, erst den Notstand zu erklären und sich dann ungestraft um die Wiederwahl zu bewerben. Die Folge war eine der höchsten Wahlbeteiligungen in der indischen Geschichte. Ein Jahrzehnt später wurde ihr Sohn Rajiv verdächtigt, sich an einem 1,6 Milliarden Dollar schweren Waffendeal mit Schweden bereichert zu haben, obwohl beide Seiten behaupteten, Provisionen seien keineswegs im Spiel gewesen. Der Bofor-Skandal führte zu Rajiv Ghandis Sturz und letztlich auch zu seinem selbstmörderischen Versuch, die nächsten Wahlen doch noch zu gewinnen. Dieser Skandal illustriert vieles, was für die politische Kultur Indiens typisch ist. In erster Linie jedoch zeigte er, daß niemand sich weitere Gedanken darüber machte, warum die indische Regierung Milliarden Dollar in Devisen für die Anschaffung neuester Artilleriegeräte bereitstellte. Keiner hat gefragt, wozu die Artillerie dienen sollte, und ob sie den existierenden Gefahren angemessen war oder einem extrem übertriebenen Bedrohungsgefühl entsprangen. Auch wurde nicht gefragt, ob solche Ausgaben nicht etwa eine ohnehin schon äußerst angespannte Ökonomie zu Fall bringen könnten.

Um das Schweigen von Bofors und zahllosen anderen Rüstungsgeschäften zu verstehen, muß man auf das Datum der indischen Unabhängigkeit von 1947 zurückgreifen. Das indische Empire erkaufte seine Unabhängigkeit mit einer Teilung, die zu blutiger Gewalt und Unruhen führten — damals ein unübersehbares Zeichen für die neue Regierung, daß, unabhängig von der auf jeden Fall nötigen wirtschaftlichen Entwicklung, in jedem Fall Streitkräfte aufgebaut werden müßten. Der 1964 folgende Grenzkrieg mit China und Indiens Niederlage schienen diese Auffassung nur noch zu unterstreichen.

Die Verteidigung mußte gestärkt werden, zumal Pakistan und China auch noch gemeinsam Front gegen Indien zu machen begannen. In den ersten Jahren seiner Regierung wandte Nehru sich mit größter Aufmerksamkeit der Außenpolitik seines Landes zu. Jedoch vernachlässigte er die Details der Entscheidungsstrukturen in der Verteidigungspolitik. Außerhalb der Armee besaß keiner genug Expertenwissen und politische Fähigkeit, um dieses Vakuum zu füllen. Die Konsequenz war, daß das Militär an Macht gewann. Zwar war Indien zu arm und Nehru selbst zu sehr Pazifist, als daß sich sofort ein gigantischer Apparat hätte bilden können. Aber es gelang den indischen Streitkräften dennoch im Laufe der fünfziger Jahre, sich eine Reihe wichtiger Planungskapazitäten zu sichern, darunter insbesondere eine Langstrecken-Bomberflotte und ozeangängige Kriegsmarine. Geld, Waffen und Technologie folgten mit den Jahren.

Den indischen Eliten, und in letzter Zeit auch einer aufblühenden Mittelklasse, war die Verteidigungsfähigkeit Indiens und seine unübersehbare Präsenz auf der Bühne der internationalen Politik immer schon ein Herzensanliegen. Indien, so argumentieren sie, ist weniger arm als der Westen gerne glauben möchte. Außerdem habe der indische Verteidigungshaushalt selten mehr als drei Prozent des Bruttosozialprodukts betragen — im scharfen Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Dritten Welt, und die gesetzliche Beschränkung der Militärausgaben liegt bei sieben Prozent des Bruttosozialprodukts.

Die eindeutige Haltung der indischen Eliten und seiner Mittelklasse zum Thema regionale Sicherheit wischt jede Frage nach der Legitimität von Rüstungsausgaben vom Tisch. Das Ausmaß der Feindschaft zwischen Indien und Pakistan kann kaum überschätzt werden, und auch die Niederlage gegen China von 1962 ist nach wie vor ein Dorn im Fleisch des nationalen Selbstbewußtseins. Hinzu kommt, daß man in Indien die Ansammlung enormer Waffenarsenale der Supermächte im pazifischen Raum stets als demonstratives Gegengewicht zu den eigenen Interessen, nämlich selbst Kontrollmacht der Region zu werden, sieht. Die kürzliche Intervention auf den Malediven, Gerüchte über die Entsendung einer indischen Truppe nach Fiji (zum Schutz der dort zunehmend ausgegrenzten indischen Bevölkerung) und die Patrouillen entlang der mosambikanischen Küste machen deutlich genug, mit welcher Ambition der Subkontinent den Küstenraum des pazifischen Ozeans betrachtet.

Ebenso schwer scheint es, eine Mehrheit im Lande gegen die nukleare Option auszumachen, eine Tatsache, die bekräftigt wurde durch das Programm der rechtsgerichteten Bharata Janata Partei (BJP), das zu den kürzlich stattgefundenen Wahlen eine offen pronukleare Militärpolitik forderte. Das einzige, was Indien offenbar davon abhält, ein Atomwaffenprogramm zu entwickeln, ist der Chor erfahrener Außenpolitiker im Land. Sie erinnern daran, wie nahe Indien nach den nuklearen Tests von Pokhran 1974 dem Status eines internationalen Pariah kam.

In Kombination all dieser Faktoren muß man von einer selbstauferlegten Zensur in Bezug auf sämtliche Fragen der nationalen Sicherheit in Indien sprechen. Bereits in den fünfziger Jahren machten empörte Abgeordnete den „Skandal“, daß sich in einer internationalen Rüstungszeitschrift Daten über indische Waffensysteme befanden, zum Gegenstand einer Fragestunde im Parlament; war nicht etwa die nationale Sicherheit Indiens dadurch gefährdet worden?

Seitdem hat sich wenig geändert: Verteidigung und nationale Sicherheit sind die heiligen Kühe der indischen Politik geblieben. Wenn Fragen nach Militärausgaben und Rüstungsverträgen als unpatriotisch gelten, kann es nicht verwundern, daß Politiker sie nicht mehr öffentlich zu stellen wagen. Unabhängige Militärexperten, die der Regierung mit kritischen Fragen zu Leibe rücken könnten, gibt es zu wenige. Und die wenigsten Zeitungen haben Militärkorrespondenten, so daß dieser gesamte Themenbereich in der Presse schlecht abgedeckt und kaum analysiert wird. Die regelmäßigen Debakel vor dem Rechnungshof scheinen niemanden weiter zu interessieren.

Auch im Ausland hat kaum jemand Notiz genommen von dem beträchtlichen Ausbau des indischen Waffenarsenals im Laufe des letzten Jahrzehnts. Mitte der achtziger Jahre schloß die indische Regierung mit der Weltbank einen Vertrag über Kredite in Höhe von vier Milliarden Dollar; nur wenige Wochen später folgte ein Vertrag mit Frankreich über den Ankauf von Kampfflugzeugen vom Typ Mirage 2.000, dem damals teuersten Kampfflugzeug auf dem Markt, in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar. In einer ihrer letzten Ausgaben zeichnete die Zeitschrift 'Economist‘ (London) ein eindrucksvolles Bild von der kranken Wirtschaft des Subkontinents; an keiner Stelle jedoch wird Bezug genommen auf die Folgen der hohen Militärausgaben.

Die Folgen dieser selbstauferlegten Zensur waren katastrophal. In den sechziger und siebziger Jahren konnte die indische Wirtschaft die Anschaffungen nicht finanzieren, die das Militär forderte. Seine Bedürfnisse wurden nur teilweise erfüllt. Für den Rest mußten sich die Militärs mit sowjetischen Geräten begnügen, da diese billiger waren und zudem in indischen Rupies bezahlt werden konnten. Im Laufe der achtziger Jahre erholte sich die Ökonomie, und Indira Ghandi sanktionierte den größten Rüstungsausbau, den das Land je gesehen hatte. Sie spielte Ost gegen West aus und verschaffte dem Land durch diese Politik eine gigantische Kriegsmaschinerie.

Ein Jahrzehnt später jedoch ist die indische Wirtschaft ruiniert. Die Inflationsrate ist hoch, die Devisenreserven sind mager, und es ist äußerst fraglich, ob der Rupien-Rubel-Handel überleben kann. Die Ökonomie wird Jahrzehnte brauchen, um sich von diesem Einbruch zu erholen. Zwar gibt es viele Gründe für den Zusammenbruch — aber die hohen Rüstungsausgaben sind eindeutig ein Faktor gewesen.

Der neue indischen Finanzminister Manmohan Singh führt rapide ökonomische Reformen durch, die vor Jahren noch undenkbar gewesen wären. Nur der Armee ist bisher noch kein Geld gestrichen worden...

Zukünftige Regierung und Wähler sollten vielleicht dem Paradox mehr Aufmerksamkeit schenken, daß ihre Militärstrategen zwar nationale Sicherheit und internationale Bedeutung kreieren wollten, dabei jedoch eine Wirtschaftskrise verursachten, die das Land in wirtschaftliche Unsicherheit geführt und den Verlust seiner ökonomischen Souveräntität besiegelt hat.

Chris Smith ist Mitglied des Institute of Development Studies an der Universität von Sussex (GB); zur Zeit bereitet er ein Buch über die indische Verteidigungspolitik vor: India's Ad Hoc Arsenal.