INTERVIEW
: Nichtstaatliche Missionen

■ Gespräch mit Dmitrij Leonow, dem Vorsitzenden der Menschenrechtskommission der Gruppe „Memorial“ in Moskau

taz: Die Organisation „Memorial“ ist im Westen als antistalinistische Demokratisierungsbewegung bekannt geworden. Nun beschäftigen Sie sich auch mit den aktuellen Nationalitätenkonflikten. Warum haben Sie Ihre Arbeit ausgeweitet?

Dmitrij Leonow: Meine Aktivitäten in diesem Bereich begannen nach dem Militäreinsatz in Baku im Januar 1990, als in einer einzigen Nacht 100 Zivilisten getötet wurden. Damals empfand ich die dringende Notwendigkeit, vor Ort Nachforschungen anzustellen und zu dokumentieren, was sich tatsächlich ereignet hat. In der Geschichte des „Memorial“ und überhaupt unseres Landes war das die erste derartige Reise, die mit dem Ziel erfolgte, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Die Reisen, die wir seit 1990 durchführten, galten in erster Linie dem Transkaukasus.

Natürlich hat es vor und nach unserer ersten Informationsreise auch Politiker, meist Volksdeputierte, gegeben, die sich persönlich in Krisengebiete begaben. Aber Politiker sind nicht in der Lage, selbst Augenzeugenberichte zu sammeln bzw. die Richtigkeit solcher Aussagen zu überprüfen. Falls es nicht zu einer Ergänzung ihrer Arbeit durch die sorgfältige Tätigkeit von Menschenrechtsorganisationen kommt, enden solche Bemühungen so ergebnislos wie die Reise der Präsidenten Jelzin und Nasarbajew nach Berg-Karabach oder die vorgeblichen Versuche, den Jugoslawien-Konflikt auf rein politische Weise zu lösen.

Was sind nach Ihrer Auffassung die Hauptursachen für die Nationaliätenkonflikte in der ehemaligen UdSSR?

Einige Aspekte scheinen mir politisch und nicht ethnisch bedingt. Es gibt viele konfliktverschärfende Faktoren wie z.B. die Umweltgefährdung oder die wirtschaftliche Lage. Ein Hauptkonfliktpunkt ist die Beteiligungsfrage. Typisch für unser bisheriges Wirtschaftssystem war u.a., daß die Zuteilung von Rohstoffen, Lebensmitteln, Konsumgütern aller Art usw. zentralistisch und statusfixiert erfolgte, also entsprechend dem Status eines Territoriums, einer Einrichtung oder eines Menschen. Angesichts der allgemeinen Versorgungskrise äußert sich der Kampf der territorial-administrativen Einheiten zugleich als Kampf um die Erhöhung des eigenen Status, und dies nicht nur aus Gründen der Nationalitätenproblematik oder größerer Entscheidungsfreiräume, sondern gerade auch in Hinsicht auf eine verbesserte Versorgung.

Sämtliche dieser Probleme bestehen natürlich nicht erst seit gestern. Aber sie wurden in dem Augenblick thematisiert, in dem wir eine relative Meinungsfreiheit erlangt hatten, politische Parteien bilden und innerhalb bestimmter Grenzen auch freie Wahlen durchführen konnten. Da stellte man dann fest, daß Appelle an die Wähler besonders dann gut ankamen, wenn man die genannten Probleme zu nationalen Fragen erhob.

Es gab doch aber auch brennende soziale Probleme?

Jene Bewegungen, die jetzt als rein nationale auftreten, haben alle mal als Perestroika-Bewegungen angefangen. Doch das war nur das Vorspiel, bis man an den wahren Hebel gelangte. Danach haben all diese Bewegungen ausschließlich nationalen Charakter angenommen. Zusätzlich wurde der gewissermaßen natürliche nationalistische Wiederaufschwung künstlich durch die neuen und übrigens auch die alten politischen Kräfte beschleunigt. Alle appellierten sie bei den relativ freien Wahlen an die lang verschütteten Nationalgefühle.

In den meisten multiethnischen Imperien der Weltgeschichte wurde doch nach dem Motto „Teile und herrsche!“ verfahren und wurden Verwaltungseinheiten ungeachtet sprachlicher, ethnischer oder geographischer Zusammenhänge geschaffen...

Eine solche Mißachtung von Zusammenhängen kann man in der sowjetischen Geschichte auch anders erklären. Man rechnete doch während der dreißiger Jahre mit der Nivellierung nationaler Unterschiede, und in den zwanziger Jahren, als man die Weltrevolution für die allernächste Zukunft erwartete, schien es schon gar keine Rolle mehr zu spielen, ob und in welcher Weise die Unionsrepubliken miteinander verzahnt wurden.

Was halten Sie bei einem gut funktionierenden Vielvölkerstaat für unerläßlich?

Unerläßlich ist die Kodifizierung des internationalen Rechts, vor allem die Definition des Selbstbestimmungsrechts. Das ist in verschiedenen internationalen Vertragswerken und Dokumenten ein allzu verschwommener, wenig definierter Begriff, aus dem jeder das herausliest, was er gerade benötigt. Ich sehe ja ein, daß es nicht leicht ist, dieses Recht zu kodifizieren, aber es ist dringend notwendig.

Wie leicht ist es für russische Menschenrechtler, außerhalb Rußlands in den ehemaligen Unionsrepubliken tätig zu werden? Wird Ihre Arbeit nicht als unerwünschte Einmischung betrachtet?

Einige unserer Reisen führten wir mit einem Mandat der internationalen Helsinki-Föderation durch. Im übrigen sah man unsere Anwesenheit in Krisengebieten, die sich im Ausnahmezustand befinden und vom Militär kontrolliert werden, bisher sehr gern. Man erhoffte sich von uns u.a., daß wir mit unserem Objektivitätsanspruch die einseitige, propagandistisch gefärbte Berichterstattung über diese Regionen durchbrechen könnten. Was die heutige Situation betrifft, so sollten internationale Organisationen bei solchen Missionen die Hauptrolle spielen, in deren Auftrag wir als Beobachter tätig sein würden.

Wie können ausländische Menschenrechtsorganisationen Ihre Arbeit unterstützen?

Nach dem Zerfall der bisherigen Struktur der Sowjetunion haben sich die Einheiten des zentralen Innenministeriums aus den Konfliktzonen zurückgezogen. Und obwohl die Präsenz dieser Einheiten oft genug problematisch war, so ist nach dem Abzug mit einer noch größeren Zunahme von Menschenrechtsverletzungen zu rechnen. Das gilt auch für den Fall, daß sich die Einheiten verselbständigen. Vermutlich wäre das noch schrecklicher, vergleichbar der Herrschaft der Soldatenkaiser, die von den Truppen des untergehenden Römischen Reiches an die Macht gebracht wurden.

Ziel meiner Reise nach Deutschland war es deshalb, Kontakte mit Menschenrechtsgruppen aufzunehmen und sie von der Notwendigkeit von Versöhnungsmissionen in unseren Krisengebieten zu überzeugen. Im Falle des Berg-Karabach-Konfliktes schienen vor einigen Wochen alle drei Konfliktseiten, einschließlich der Einheiten des zentralen Innenministeriums, damit einverstanden zu sein, daß Bedingungen für die Entsendung von internationalen Missionen geschaffen werden. Natürlich ist es unerläßlich, daß die Angehörigen dieser Missionen keine Vertreter von Staaten, sondern von Menschenrechtsorganisationen sind. Das ist kein Schritt hin zur Internationalisierung, sondern umgekehrt zur Kontrolle von Konflikten. Im Falle Armeniens und Aserbeidschans sind beide Konfliktseiten zutiefst von der Objektivität angesehener internationaler Organisationen überzeugt.

Unerläßliche Voraussetzung solcher Missionen ist freilich, daß die betreffenden Organisationen von beiden Konfliktseiten als vertrauenswürdig angesehen werden, was automatisch alle politisierten Organisationen von einer solchen Aufgabe ausschließt. Ein abschreckendes Beispiel hierfür war für mich das deutsche Helsinki-Menschenrechtskomitee, an dessen Sitzung ich in Bonn teinahm. Da erörterte man u.a. die Frage einer Erklärung zugunsten der Gefangenen in der Türkei. Der zweite Vorsitzende, Dr. Hans Stercken, sprach sich mit der Begründung dagegen aus, das Komitee könne außer direkten Erklärungen auch eine Reihe indirekter Wege einschlagen. Und keiner der Anwesenden widersprach ihm, vielleicht auch deswegen nicht, weil Stercken zugleich Vorsitzender des Außenausschusses des Bundestages ist. Später erfuhr ich aber, daß Dr. Stercken zudem noch den Vorsitz der Deutsch- Türkischen Gesellschaft innehat. Dies ist das krasseste mir bekannte Beispiel von politischem Engagement in einer Menschenrechtsorganisation, weswegen ich es für notwendig erachte, dieses Negativbeispiel überall zu erzählen. Interview: Tessa Hoffmann