Schmutzige Altlasten im Osten Europas

Zwischen der „Vergangenheitsbewältigung“ in der Ex-DDR und den anderen Ländern des ehemaligen „Ostblocks“ gibt es einen grundlegenden Unterschied: Nirgendwo zwischen Warschau und Sofia stand der große Schwamm namens BRD zur Verfügung, der alles aufsaugt, wegwischt, säubert. Anders als „bei uns“ konnten dort die alten Eliten nicht wegtauchen. Die Bevölkerung ist mit noch bestehenden oder neu begründeten Machtpositionen der Nomenklaturisten von einst konfrontiert. Wie das Problem der realsozialistischen Sicherheitsdienste und ihrer Zuträger zu lösen ist, wird dort nicht wie „bei uns“ zum Material eines moralischen Schauspiels, wo sich das Publikum an der jeweils neuesten Bespitzelungstragödie ergötzt, während die eigentlichen Täter ein gutgehendes Detektivbüro im Westen betreiben. Vielmehr geht oder ging es um Formen für den gesellschaftlichen Übergang, die stets auch Arrangements und Kompromisse einschlossen. In der Sowjetunion und in zwei Ländern Ostmitteleuropas, Polen und Ungarn, haben reformorientierte Teile der Machtelite die demokratische Wende mit eingeleitet. Der demokratischen Öffnung in der Sowjetunion folgte der „Runde Tisch“ in Warschau, später der dreieckige in Budapest. Kadar und Jaruzelski, „Heroen des Rückzugs“, legten der Demokratie keine Hindernisse in den Weg, mehr noch, sie deckten ihre eigene fortschreitende Entmachtung gegenüber der schwankenden sowjetischen Hegemonialmacht ab. Diese Selbstdemontage war bestimmend für das Verhältnis der frei gewählten Regierungen zu den Sicherheitsdiensten und deren Spitzeln. Die Politik des „dicken Schlußstrichs“, von der Regierung Mazowiecki in Polen proklamiert und in die Tat umgesetzt, begrenzte Verfolgungsmaßnahmen auf schwere Verbrechen. Der Sicherheitsdient wurde im Schnellverfahren durchleuchtet und reorganisiert, dann wurden die Aktendeckel geschlossen.

So unterschiedlich die Stärke der Opposition und die Politik der Nomenklatur in der CSFR und Polen waren, so unterschiedlich entwickelte sich auch das Verhältnis zu den ehemaligen Sicherheitsorganen. Im Gegensatz zu Polen, wo eine selbstbewußte, in der Arbeiterklasse verankerte und von der Kirche gestützte demokratische Bewegung bis in die gelenkte Öffentlichkeit hinein Einfluß ausübte, waren die Demokraten der CSSR gesellschaftlich isoliert. Erst in den Tagen des November-Generalstreiks gingen die „Massen“ auf die Straße, zogen ihren Schlüsselbund aus der Tasche und läuteten der verbissen um ihren Machterhalt kämpfenden Führungsgarnitur das Sterbeglöckchen.

Die Revolutionäre der Charta 77 hatten Sanftmut und Vergebung im Sinn. Durchgesetzt hatte sich kurze Zeit später ein Verfolgungseifer, der umso unnachgiebiger auftritt, je lammfrommer seine Protagonisten dem alten Regime gedient hatten. Bezeichnenderweise richtet sich der Haß nicht in erster Linie gegen die alten Bedrücker, sondern gegen die Reformkommunisten des Jahres 1968, die nach der Okkupation des Landes eine Alternative zur Anpassung vorgelebt hatten. Der Spitzelvorwurf ist allgegenwärtig und lähmt die demokratischen Institutionen. Wer ihm ausgesetzt war, bleibt stigmatisiert, auch wenn das mit der Akteneinsicht beauftragte Kontrollorgan den Verdacht nicht bestätigte. Die aber überführt wurden, beteuern fast ohne Ausnahme bis heute ihre Unschuld.

Während in der CSFR der heutige Einfluß der Nomenklatura und der aufgelösten Sicherheitsdienste wahnhaft übertrieben werden, hat die Bevölkerung Rumäniens und Bulgariens allen Grund, die fortdauernde Tätigkeit der alten Cliquen und Seilschaften zu fürchten. Das autoritäre Regime Iliescus bedient sich der Securitate, auch in Bulgarien sind personell und organisatorisch die Unterdrückungsorgane noch weitgehend intakt. Die Forderung nach Reinigung ist wohlbegründet, doch wird sie übertönt durch den Schrei nach Vergeltung. Mit der ökonomischen Misere wächst die Zahl derer, die nicht nur die Bestrafung führender Unterdrücker, sondern die Kriminalisierung der ehemaligen Staatspartei und ihrer Massenorganisationen fordern. Das Strafbedürfnis, von rechten Demagogen geschickt angeheizt, droht jetzt auch in Ungarn und Polen endemisch um sich zu greifen. Christian Semler