Hörreste, Sehreste... und ein drittes Ohr

Zwei neue Publikationen zum ältesten Sinn  ■ Von Daniele Dell'Agli

Es ist still geworden um das Hören. Fast könnte man meinen, daß die dem Gehör eigentümliche Passivität es daran hindere, sich gegen die Zumutungen einer verlärmten Welt und ihrer visuell dominierten Kultur zur Wehr zu setzen. Dabei weiß jeder, daß „Lärm Gedanken mordet“ (Nietzsche), und wer einmal seinem Fernseher den Ton abschaltet, kann erleben, wie schnell das optische Kommunikationssystem zusammenbricht, wie unverständlich oder bestenfalls komisch das der Stimmen, Geräusche oder Klänge beraubte Sichtbare wirkt. Das Gehör, dessen vornehme Zurückhaltung die Sprache mit den Höflichkeitsverben par excellence — zuhören und aufhören — bedacht hat, dieses unauffälligste unserer Sinnesorgane, macht es einem nicht leicht über es zu reden.

Um so neugieriger greift man zu einem Band, dessen generalisierender Titel auf hohe Ansprüche schließen läßt: Das Buch vom Hören. Gleich stellt sich ein Mißklang ein: Hier wendet sich ein durchweg auf Hochglanzpapier gedrucktes Schriftwerk mit über 60 zum Teil farbigen Abbildungen aus Kunstgeschichte, Kunstgewerbe, Ethnologie und Werbung zunächst einmal ans Auge. „Gewinnend“ nennt man wohl in der Branche solches Outfit. Doch wer soll damit gewonnen werden und wofür? Und hat das Hören, ansonsten Anathema in den Buchauslagen, derartige Hilfestellung nötig?

Der erste Eindruck bestätigt sich leider beim flüchtigen Durchblättern und wird auch von genauerem Studium nicht entkräftet. Eingespannt zwischen Auszügen der Calwer Bibelkonkordanz und dem Grimmschen Wörterbuch finden sich Dutzende zumeist kürzere Texte — Feuilletons, Essays, kurze Prosastücke und Gedichte —, die überwiegend der Symbolik des Hörens und des Ohrs, also deren diskursiver und ikonischer Präsenz in der abendländischen Kulturgeschichte — vom Alten Testament bis zur heutigen Werbung — gewidmet sind.

Nun haben Ohrenschmuck und unbefleckte Empfängnis, ein Schubert-Abend von Moritz von Schwind und das Bilderverbot zweifellos, wenn auch nur mittelbar, etwas mit der Geschichte des Hörens zu tun. Doch eben diesen Nachweis bleiben die Autoren schuldig, er hätte auch eines theoretischen Aufwands bedurft, der mit der geschmäcklerischen Tendenz dieses Sammelbandes unvereinbar gewesen wäre. Noch nicht einmal über den Zusammenhang zwischen Hören, Horchen und Gehorsam im Alten Testament, der doch für die Durchsetzung des monotheistischen Absolutismus entscheidend gewesen ist, wird der Leser unterrichtet.

Wie man den vorliegenden Band auch dreht und wendet, er fügt sich nicht so recht zu einem Buch zusammen, schon gar nicht zu einem Buch vom Hören. Zu sehr haben die Herausgeber darauf gesetzt, daß schon die Heterogenität der Texte und Gattungen der Anthologie das Interesse sichert und dabei konzeptionelle Erwägungen hintangestellt. Wie anders ist es zu erklären, daß strenggenommen nur zwei der über 30 Beiträge die vom Titel geweckten Erwartungen erfüllen? (Hören ist Sein von Joachim-Ernst Berendt und Zuhören von Roland Barthes, letzterer obendrein aus einem erst kürzlich erschienenen Band nachgedruckt.)

Um so mehr fällt bei dieser Bilanz auf, was alles in der Auswahl keinen Platz gefunden hat: weder der gnostische Protest gegen die Lärmhölle der Welt (bis hin zu Theodor Lessings wütender Kampfschrift Der Lärm von 1912) noch Ulrich Holbeins zeitgenössisches Martyrium (Der belauschte Lärm). Ebensowenig jene andere, kontrapunktisch dazu verlaufende Tradition mystischer Seinshörigkeit, die bei Rilke und dem späten Heidegger kulminiert. Nicht die Entmachtung des Hörens in den Mythen von Narziß und Echo oder von Odysseus und den Sirenen. Auch kein Wort über Labyrinth und Gehör. Und was ist mit dem Zusammenhang von Erzählen und Hörenlernen bei Benjamin? Fehlanzeige. Plessners Ästhesiologie des Gehörs, Adornos These von der Regression des Hörens? Kein Kommentar. Oder doch wenigstens etwas zur medientechnischen Revolutionierung der Hörgewohnheiten in den letzten Jahrzehnten? Einen kleinen Klartext von Friedrich Kittler zur Abhörmentalität und -praxis der Stasi? Funkstille. Auch keine Literaturliste im Anhang, nicht einmal der Hinweis auf das Standardwerk von R.Murray Schafer Klang und Krach — eine Kulturgeschichte des Hörens.

Das alles wäre nicht der Erwähnung wert, verriete es nicht auf exemplarische Weise den Zeitgeist eines „locker unangestrengten“ (so der Klappentext) Umgangs selbst mit den entscheidenden Problemen der gegenwärtigen Zivilisation. Es ist die konsequenzlose Feierabendvernunft der „anregenden Lektüre“, zu welcher der läppische geistige Aufwand und die plaudernde Betulichkeit der allermeisten Beiträge dieses Sammelbands seine Leser einlädt: „gutes Hören“ eben, statt genaues, das zum Denken vonnöten wäre; ablenkende Nebengeräusche, statt konzentrierter Stille. „Das Im-Ohrgerät treibt eine Blüte,/ du bist ihr Jahr, dich beredet/ die Welt ohne Zunge,/ das weiß/ jeder sechste.“ (Paul Celan).

Wem es ernst ist mit den Möglichkeiten und Problemen des längst fälligen Paradigmenwechsels von einem vorwiegend visuell zu einem mehr auditiv bestimmten Denken, dem sei die Juni-Ausgabe der Zeitschrift 'Fragmente‘ empfohlen, die im Zeichen „Unterbrochener Verbindungen“ zwei Schwerpunkte anbietet: „Computer und Psyche“ und „Stimme und Ohr“. Die hierunter versammelten, den Theorien und Techniken des Hörens gewidmeten Texte gehen auf Vorträge eines gleichnamigen Symposions zurück, das 1990 in Kassel stattfand. Insofern tragen sie dem heimlichen Motto der Veranstaltung, auf das sie sich direkt oder indirekt beziehen, auch stilistisch Rechnung: Nietzsches Klage von der „Marter“ des „dritten Ohrs“ bei der Lektüre „deutsch geschriebener Bücher“. (Jenseits von Gut und Böse, Nr. 246-47) „Der Deutsche liest nicht laut, nicht fürs Ohr, sondern bloß mit den Augen: er hat seine Ohren dabei ins Schubfach gelegt.“ Und so schreibt er auch.

Theodor Reik war es, der Nietzsches Forderung nach einer akustischen Sensibilisierung des Denkens im Rahmen einer Theorie des psychoanalytischen Hörens explizit aufgriff (Hören mit dem dritten Ohr); doch die hierfür zentralen Begriffe der „freien Assoziation“ und der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ finden sich schon bei Freud vorgeprägt. Um sie kreisen die psychoanalytisch orientierten Beiträge von Jutta Prasse (Wenn jemand spricht, wird es heller) und Joachim Küchenhoff/Peter Warsitz (Zur Anatomie des dritten Ohres). Während Prasse die heikle Balance zwischen Urteilen und Abdriften beschreibt, die solche nicht-selektive Wahrnehmung dem Analytiker abverlangt, konturieren Küchenhoff/Warsitz die musikalischen Dimensionen dieses anderen Hörens, wobei sie die Bedeutung der Versuchsanordnung im Behandlungszimmer des Analytikers hervorheben, die keinen Blickkontakt zuläßt. Freud selbst hat den telefonischen Charakter dieser Kommunikation betont, was wiederum Bernhard Siewert auf die Spur der Affinitäten von Telepathie und Telephonie bringt, um den medientechnischen Ursprung moderner Formen von Paranoia bloßzulegen (Gehörgänge ins Jenseits).

Wem Siewerts hard-ware-Diskurs zu futuristisch anmutet, der mag sich anschließend bei Rolf Schwendters altmodisch-hilflosem Plädoyer für die Abschaffung des Telefons entspannen oder Reinhart Meyer- Kalkus auf seinem geduldigen Gang durch Canettis akustische Masken begleiten und so — bedingt nicht zuletzt durch die Polemiken dieses Autors gegen die Psychoanalyse und den „Kannibalismus des Sprechens“ — auch die verborgenen Kontrapunkte des Symposions entdecken. Dessen Tendez liegt im gemeinsamen Interesse, verschüttete Traditionen und Modelle des Einspruchs gegen die Tyrannei des Auges im vorstellenden Denken des Abendlands herauszuarbeiten; der Mentor der Veranstaltung, Ulrich Sonnemann, dessen Spätwerk um den Gegenentwurf einer „transzendentalen Akustik“ kreist, spricht von Alternativen zum Okulozentrismus.

Wie die meisten diskursiven Innovationen der letzten Jahrzehnte verdankt auch dieses Programm wesentliche Impulse einem im deutschen Sprachraum immer noch weitgehend mißverstandenen, von den selbsternannten Gralshütern eines linken common sense als aufklärungsfeindlich denunzierten französischen Denkens. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn Jürgen Trabant, der in seinem Beitrag Sprache und Hörigkeit des Menschen an die Rehabilitierung des Ohrs als Erkenntnisorgan bei Herder erinnert, die Gelegenheit nutzt, um Tragweite und Grenzen von Derridas Kritik des Phonozentrismus auszuloten. Oder wenn Michael Wetzel Im Labyrinth des Ohres nicht nur synoptisch die vielfältigen Motive einer „Wiederkehr des Gehörs“ einsammelt, sondern zugleich dem (deutschen) Mißverständnis entgegentritt, Derrida habe mit seiner Grammatologie eine Metaphysik der Schrift im Sinn gehabt.

Wieviel noch zu tun bleibt, um deutsche und französische Ohren füreinander zu öffnen? Meyer-Kalkus, seines Zeichens Leiter der DAAD-Außenstelle in Paris, hat in einem fiktiven Kaffeehausgespräch die unterschiedlichen Frequenzen des Hörens und Sprechens in beiden Ländern einzufangen versucht. Seine Aufzeichnung ähnelt jedoch vor allem einer klassischen Projektion des unterschiedlichen Sprech- und Hörverhaltens von Mann und Frau. Unverhofft hätten wir also wenigstens das Ende des Ariadnefadens erwischt.

Das Buch vom Hören . Hrsg. von Robert Kuhn und Bernd Kreutz, Herder Verlag Freiburg 1991 252Seiten, 38 DM

Fragmente Nr. 35/36, Juni 1991. Verlag Jenior&Pressler, Kassel, 313 Seiten, 29,80 DM