DEBATTE
: Petrus, Judas und die Akten

■ Die Kirche muß sich nun mit ihrer Verstrickung in die Stasi beschäftigen

Die Akten sind die eine Seite. Nun sind sie einsehbar. Sie enthalten nicht die ganze Wahrheit. Sie sind nicht die Wahrheit, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Aber sie sind auch nicht einfach die Unwahrheit. Man kann die Stasiakten nicht übergehen, beiseite lassen. Vielen wäre es jetzt lieber, man hätte sie verbrannt, versenkt, auf ewig verschlossen. Aber wer hätte das Recht dazu? Wer? Also werden die Akten sprechen. Sie sprechen vielfach Halbwahrheiten aus, verschweigen manches — das meiste wissen sie nicht. Das Innenleben von Menschen steht nicht in Akten! Aber sie wissen vieles eben doch. Vieles wurde da gut preußisch festgehalten — für die Nachwelt, wenn nicht gar für die Ewigkeit.

Die Akten erzählen vieles auch über die Kirche und ihre Mitarbeiter: Viertelwahrheiten, Halbwahrheiten, Fakten. Da wurde die/der eine erpreßt, ein anderer wurde durch lukrative Angebote verführt oder durch Privilegien, andere wiederum waren aus politischen Gründen bereit zur Mitarbeit in der Staatssicherheit. Da brauchte die Staatssicherheit sich nicht einmal um Unterschriften zu bemühen und mußte kein Geld über den Tisch schieben. Und dann gab es auch die Delegierten der Stasi in der Kirche. Man hat miteinander gesprochen. Es ging dabei um Menschen, um Gruppen, um die Einschätzung von Vorgängen, Veranstaltungen, Institutionen, geistigen und politischen Strömungen.

„Man war miteinander im Gespräch“

Folgen waren nicht immer zu erkennen. „Man war eben miteinander im Gespräch.“ Aber es waren Bausteine — für ein Mosaik, das dann Ausgrenzung, Abschiebung, Zersetzung, Isolierung, Inhaftierung für andere Menschen bedeuten konnte.

Manch ein Mensch ist sicher auch durch die Stasi-Kooperation von kirchlichen Mitarbeitern kaputtgegangen. Sehr vieles wurde dann durch die Gespräche mit der Stasi unterbunden, verhindert, verschleiert, verschwiegen. Natürlich hat es auch das andere gegeben — daß da kirchliche Mitarbeiter für Menschen vor der Stasi oder anderen staatlichen Stellen eingetreten sind und gesprochen haben — ohne ein Blatt der Taktik und Verschleierung vor den Mund zu nehmen. Davon wußten dann andere in der Regel. Das haben wir uns mitgeteilt. Auch darüber haben wir Protokolle geschrieben und weitergereicht an Kollegen, den Bischof.

Wir haben oft die Geschichte von Judas und Petrus gelesen, die so verhältnismäßig ungeschminkt in den Evangelien zu finden ist. Der eine hat verraten, der andere verleugnet. Der eine war ein bewußter Täter, der andere hier unfähig zur Tapferkeit. In diesen Geschichten steckte ja unsere Geschichte, unsere Erfahrung: Judas ist unter uns, Petrus in seiner Unfähigkeit ist uns nicht fremd. Manchmal hatten wir eine Stasiphobie; aber immer wußten die meisten von uns: wer mit der Stasi bewußt zusammenarbeitet, der dient nicht mehr der Freiheit, dem Leben, dem Glauben, dem Menschen, der Gemeinde Jesu Christi. Da gab es nur eins: sag' „Nein“ und teile dich mit. Weil wir das wußten, gehe ich davon aus, daß die Mehrzahl der kirchlichen Mitarbeiter nicht mit der Staatssicherheit kooperiert hat. Und auch dies ist ja wichtig: Wenn kirchliche Mitarbeiter (wie andere Menschen auch) mit der Stasi kooperiert haben, dann spricht das eindeutig gegen diese Mitarbeiter, aber nicht im mindesten für die Stasi oder für die Mitarbeiter der Stasi, die erpreßt, verführt, mit Privilegien gewinkt haben. Die kirchlichen Mitarbeiter müssen sich jetzt nicht nur innerkirchlichen Fragen und Auseinandersetzungen stellen — mit manchen harten Konsequenzen.

Die mögliche Akteneinsicht macht Angst. Mancher hat sich dazu geäußert. Da fürchtet man die Selbstjustiz, weil manches Unrecht so schwer juristisch verfolgt werden kann. Es gibt jetzt Juristen, die warnen. Aber ist das einsichtig in einem Rechtsstaat? Ist nicht ein legitimes Recht der Menschen, denen Unrecht geschehen ist, daß das Recht wiederhergestellt wird — soweit das möglich ist, sei es durch Rehabilitation, durch Aufhebung von Urteilen, durch ein deutliches Benennen des moralisch Verwerflichen der Zersetzung, der Diskriminierung — unter anderem durch Wiedergutmachung? Wenn der Rechtsstaat jetzt durch Verjährungsfrist und dergleichen überfordert ist — und die Juristen sich überfordert fühlen, dann hilft es alles nichts: es müssen jetzt rechtsstaatliche Regeln erarbeitet und durchgesetzt werden, die die Wiederherstellung des Rechts möglich machen. Hier sind die Juristen im Sinne des Rechtsstaates gefordert — ansonsten würden sie nachträglich vor dem Unrecht der Stasi kapitulieren, das Unrecht der Stasi durch Nichtbearbeitung zum Recht machen. Und das geht so nicht.

Der Mensch, dem durch die Aktivitäten der Stasi Unrecht wiederfahren ist, hat ein Recht auf Wiederherstellung des Rechtes — auch wo es durch kirchliche Mitarbeiter gebrochen wurde. Die Kirche ist kein rechtsfreier Raum. Unrecht kann auch da nicht Recht heißen. Aus diesem Grunde ist es schon nötig, daß Judas und Petrus — die bewußten Täter und die von Angst in Unrecht Hineingeratenen — sprechen, sich offenbaren. Es hilft nichts. Wir werden uns dieser Thematik sehr klar stellen müssen.

Es wäre sicher gut gewesen, die Kirche hätte sich entschieden, daß alle an der Seelsorge beteiligten Mitarbeiter sich überpüfen lassen müssen — um den nun durch Akteneinsicht oder schuldhafte Verstrickungen verunsicherten Menschen deutlich zu machen, daß sie sich vor der Frage nach ihrer Vertrauenswürdigkeit nicht drückt. So hätte die Kirche eine Freiheit der Seelsorge gewonnen, die jetzt durch die notwendige Selbstbeschäftigung mit der eigenen Stasigeschichte verdeckt wird.

Dennoch: Ein großer Teil der kirchlichen Mitarbeiter ist bereit, sich freiwillig überprüfen zu lassen — um die Freiheit der Seelsorge und zu seelsorgerlichem Beistand zu gewinnen — für die Opfer der Stasi, die schwer an den nun sichtbar werdenden Wahrheiten zu tragen haben — und für die Täter, die mit sich vielleicht nicht mehr klarkommen und vor sich und anderen weglaufen möchten. Wenn Petrus über sich und seine Angst spricht, dann wird da zukünftiges Leben möglich. Wenn Judas rechtzeitig gesprochen hätte, hätte er sicher nicht in Verzweiflung enden müssen. Die Einsicht in die Akten weckt bei vielen Menschen Ängste wie vor dem Jüngsten Gericht. Das aber wird durch die Akteneinsicht nicht beginnen. Die Akteneinsicht ist nicht das Weltgericht — denn da ist sicher vieles fragwürdig, problematisch. Manches muß sehr genau bedacht und abgewogen werden. Und dennoch: die Akten sind kein Schmierpapier. Sie geben Zeugnis von den Eingriffen in das Leben von Menschen, auch von manchen Vergehen und Verbrechen. Deshalb kommen wir nicht daran vorbei, uns all diesen Fragen zu stellen.

Petrus und Judas wußten, was sie taten

Wer in der Kirche für und mit der Stasi zusammengearbeitet hat, kann sich nicht herausreden. Er weiß, daß sein Tun Schuld war und ist. Er hat das Vertrauen mißbraucht und verletzt. Er hat der Gemeinde, der Kirche, dem seelsorgerlichen Handeln der Kirche schwersten Schaden zugefügt. Er hat Menschen tief in der Seele und Person damit wehgetan. Wir wußten alle, daß die Stasi nicht einfach so an Informationen interessiert war, sondern daß es um Macht über Menschen ging, um die Verhinderung von Veränderungsprozessen. Die meisten jedenfalls waren nicht so unglaublich naiv, daß sie dachten, es wird schon gut gehen oder dient nur einem guten Zweck. Wir wußten, daß man nicht zwei Herren dienen kann. Wir wußten, daß den Herrschenden auf keinen Fall das Verfügungsrecht über Menschen und politische Überzeugungen und Gewissen zusteht. Wir haben von der Bekennenden Kirche lernen können, daß dem Staat nicht das Recht zugestanden werden kann, „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens [zu] werden und also auch die Bestimmung der Kirche“ zu erfüllen (Theologische Erklärung von Barmen 1934/Barmen V).

Manche von uns wußten, daß auch in der Nazizeit kirchliche Mitarbeiter mit der Gestapo zusammengearbeitet und was sie damit für ein Unrecht begangen haben. Wir haben erfahren, daß die Stasi sich das Wissen aus den Gestapo-Akten zunutze gemacht und Kirchenleute damit erpreßt hat.

Die Kirche hat in ihrer Gesamtheit dennoch ihre Freiheit gewahrt und sich nicht zu einem Instrument der Stasi machen lassen — es hat immer deutliche Gegenkräfte und -bewegungen gegeben. Aber Petrus wußte, wann er ängstlich und feige war und verleugnet hat. Judas erkannte seinen Verrat und konnte keine Illusionen mehr haben.

Versöhnung mit der Krake?

Mit dem Mißbrauch politischer Macht, mit den Eingriffen in die Gewissensfreiheit von Menschen, mit der Zersetzung von Menschen kann es keine Versöhnung geben. Da kann man nur von seiner eigenen Angst und Feigheit oder seinem tiefen Vertrauensverlust sprechen und widerstehen. Dieses System der Überwachung, Denunziation, Verunglimpfung, des Mißtrauens ist nicht zu akzeptieren — um der menschlichen Zukunft willen. Versöhnung damit — nein, niemals! Und diejenigen, die es bewußt getragen und gestaltet haben, müssen schon noch mit ihrem Tun konfrontiert werden — mit den Konsequenzen aus dem, was sie da mitzuverantworten haben an Gewissens-, Persönlichkeits-, Lebenszerstörung. Mit der Krake Stasi kann es keine Versöhnung geben — aber zwischen den Menschen, wenn daran gearbeitet wird; wenn Gründe, Abgründe, Hintergründe geklärt sind.

Petrus kann neu werden und eine große Bedeutung für andere Menschen auf dem Weg ehrlicher Selbstklärung gewinnen. Auch Judas kann eine Chance haben, wenn er nur bereit ist zu sprechen, sich nicht zu verkriechen. Wir sind nicht die Richter des Jüngsten Gerichts — und auch nicht die Opfer des Weltgerichts, aber wir haben ein Menschenrecht auf Klärung, Klarstellung.

Und mit dieser Art Aufklärung selbstverschuldeter Unmündigkeit und Abhängigkeit muß nun umgegangen werden. Da muß der eine dem anderen etwas erklären — und der andere hat ein Recht zur Frage und auch darauf, daß eine Entschuldigung laut wird. Und manchmal wird die Entschuldigung nicht ausreichen — da wird man Wiedergutmachung erwarten können und die Bereitschaft dazu.

Versöhnung heißt jetzt Arbeit an dieser Vergangenheit. Versöhnung ist nicht im mindesten das Verdecken und Kitten von Härten und Unmenschlichkeiten und Gewissenszwang. Aber wenn denn christlicher Glaube mehr und anderes ist als eine kleinbürgerliche Weltanschauung, dann kann sich hier zeigen, daß er zutiefst von der Erfahrung herkommt, daß Menschen sich verändern können und daß auch jene miteinander leben lernen können, die gestern vielleicht sogar Feinde waren. Rudi Pahnke

Evangelischer Pfarrer, seit Januar Mitarbeiter der Ostberliner Evangelischen Akademie