Das Judassyndrom

■ Die evangelische Kirche in der ehemaligen DDR treibt der Stasi-Dämon um/ Wer wirft den ersten Stein auf die Spitzel im Talar? Zwischen der „Sucht zur Selbstreinigung“ und „billiger Gnade“/ VON BASCHA MIKA

Die Bösen werden geschlachtet,

die Welt ist gut.

Erich Fried, Die Maßnahme

Wenn zwei oder drei „im Namen des Herrn“ versammelt waren, dann war er mitten unter ihnen: der Mann der Stasi, der Spitzel im Talar. Noch liegt ein wenig vom Abglanz der Wende auf der evangelischen Kirche der Ex- DDR, noch zehrt sie vom Mythos als Hort des Widerstands. Doch die „Kirche im Sozialismus“ war keine Insel der Seligen, kein Fels der Opposition, nur Sand, auf dem auch die Staatssicherheit trefflich bauen konnte. „Hofnarr, Bote und Rebell“ sei die Kirche in der DDR gewesen, meint ihr früherer Generalsekretär Manfred Stolpe. „Stasikumpan“ hätte er ergänzen müssen.

Das wissen die Kirchenleute im östlichen Deutschland. Und ihre Furcht vor dem Judassyndrom ist größer als ihr Gottvertrauen. Spätestens seitdem der mecklenburgische Synodale Wolfgang Schnur nach seinem „Demokratischen Aufbruch“ einen jähen Abbruch erlitt — enttarnt als Mann des Mielke-Ministeriums im Winter 1990 — schwant ihnen das Ausmaß des Teufelswerks. Und spätestens seitdem läuft die innerkirchliche Debatte zum Umgang mit den Kollaborateuren. Zäh ließ sie sich an, unwillig wurde sie in den Synoden aufgegriffen, die praktischen Konsequenzen lassen auf sich warten.

In den letzten Monaten wird das Tempo von außen bestimmt: von den Medien, die ständig neue inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS auf allen kirchlichen Ebenen entlarven, aber auch vom Stasiaktengesetz, das den Opfern erlaubt, den Peinigern auf die Spur zu kommen.

Zwei-Reiche-Lehre

„Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bedenken haben: In dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie.“ So formulierte 1971 die Eisenacher Synode des Kirchenbundes ihr Selbstverständnis, zwei Jahre nach der Gründung des von den westdeutschen Kirchen unabhängigen „Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR“ (BEK). 1968 hatte die Verfassung des säkularisierten Staates den Kirchen in Artikel 39 zugesichert, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen und ihre Tätigkeit auszuüben „in Übereinstimmung mit gesetzlichen Bestimungen“.

Die „Kirche im Sozialismus“ betrat den schmalen Pfad zwischen Anpassung und zarter Kritik, hangelte sich entlang an Luthers längst überholter Zwei-Reiche-Lehre: der strikten Trennung von Kirche und Staat. Zur „mündigen Mitarbeit in der sozialistischen Gesellschaft“ forderte der Erfurter Propst Heino Falcke 1972 die DDR-Christen auf. Und noch 1988 sprach der Kirchenbundvorsitzende Werner Leich zu Staatschef Erich Honecker: „Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, eine Oppositionspartei zu sein oder Akklamationen abzugeben.“

Wäre es nach der Kirchenleitung gegangen, das System hätte sich die Kontrolle sparen können. Aber da waren die basisdemokratischen Gruppen in den Gemeinden, die Friedensapostel, Umweltbewußten und Bürgerrechtler, die den kleinen Freiraum unterm Kirchendach für ihr gesellschaftspolitisches Engagement nutzten. Sie hielten Distanz zu den Taktierern an der Spitze, Brüder in diesem Geiste wollten sie nicht sein. Und da waren die drei kirchlichen Hochschulen in Berlin, Leipzig und Naumburg. Anders als an den theologischen Sektionen der Universitäten war hier nicht Vater Staat, sondern Mutter Kirche Herr im Hause: Sie bestimmte Lehrkräfte und -angebot selbständig, ließ ihre Kandidaten auch ohne vorherigen Militärdienst studieren und ersparte ihnen die obligatorische Unterweisung in Marxismus-Leninismus.

Die Staatswächter strengten sich an, den „Störfaktor Kirche so gering wie möglich zur Geltung“ kommen zu lassen (MfS-Verschlußsache 016- 905 von 1985). Jede Stasi-Bezirksverwaltung besaß ein Referat XX/4, das Informationen über Religionsgemeinschaften sammelte. Die kirchlichen Hochschulen wurden zum „operativen Schwerpunkt“, in den Gemeinden wurde ein gut funktionierendes Netz von Informanten aufgebaut. „Der Prozeß der innerkirchlichen Disziplinierung feindlicher Kräfte konnte durch IM im kirchenleitenden Bereich wirksam unterstützt werden“, stellten Mielkes Leute 1988 zufrieden fest. Zwischen 500 und 1.500 Wanzen im Talar soll es nach letzten Schätzungen in den acht ostdeutschen Landeskirchen gegeben haben.

In vielen Fällen haben sich kirchliche Mitarbeiter bereitwillig „abschöpfen“ lassen und dafür „selbstverständlich Vergünstigungen“ erhalten, schreiben der Westberliner Theologe Gerhard Besier und sein Kollege Stephan Wolf, Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Nach ihren Recherchen über dieses unrühmliche Kapitel Kirchgeschichte wurde seit 1985 kein Ost-Bischof mehr bespitzelt. Die obersten Würdenträger waren staatsloyal — wenn nicht schlimmeres. Wer sich noch 1989 über Bischof Horst Gienke wunderte, der Erich Honecker zur Wiedereinweihung des restaurierten Greifswalder Doms eingeladen hatte, wundert sich jetzt nicht mehr: Gienke wurde bei der Stasi als IM „Orion“ geführt. Als „unbedingt zuverlässig“ galten nach Einschätzung der SED unter anderen Kirchenpräsident Eberhard Natho und BEK-Generalsekretär Manfred Stolpe, heißt es bei Wolf und Besier.

In der Hauptabteilung XX/4 waren 1989 41 hauptamtliche und 110 inoffizielle Mitarbeiter beschäftigt. „Gute Kontakte und mitunter sogar Freundschaften“ pflegte der letzte Leiter der Kirchenabteilung beim MfS, Joachim Wiegand, zu seinen IM. Auch im Westen wurde gesät und geerntet: In Kirchenleitungen und Synoden tummelten sich 40 Schnüffler, nur einer ist bisher enttarnt.

Dämonisches Erbe

Was tun mit diesem dämonischen Erbe? Ernsthafter als in anderen gesellschaftlichen Bereichen diskutieren die Kirchenleute die Vergangenheit unter ethischen Vorzeichen, fragen nach Schuld, Sühne und Vergebung — und verstricken sich heillos zwischen Gesetz und Evangelium. Oder weniger theologisch: ob sie sich des Problems mit Hilfe des (Kirchen-)Rechts oder der protestantischen Vergebungsethik, der „göttlichen Gnade“ entledigen sollen.

Doch nicht nur die eigene Weltanschauung bremst das praktische Handeln. Die Vergangenheitsbewältigung stellt sich auch dar als Machtkampf in der frisch vereinten Gesamt-EKD. Hinzu kommt der Anspruch, anders als die laizistische Öffentlichkeit mit den schwarzen Schafen umzugehen. So ist das Gift in alle Bereiche gedrungen: nach innen, ins Verhältnis zwischen Ost- und West- Kirche und in das zwischen Kirche und Gesellschaft.

Zur Entgiftung setzten die östlichen Landeskirchen zunächst auf freiwillige Selbstreinigung. Seelsorgegruppen wurden gebildet: Wer mit der Stasi zusammengearbeitet hatte, sollte sich vertraulich offenbaren. An eine generelle Überprüfung aller kirchlichen Mitarbeiter mochte man zunächst nicht denken. „Diese Sucht nach Selbstrechtfertigung haben wir nicht nötig“, stellte Ost-Propst Hans-Otto Furian fest. In der Kirche könne Schuld bekannt und Vergebung gewährt werden — auch ohne staatliche Hilfe.

Wer nach Stasileuten in der Kirche fahnde, benutze die „Mistforke des Mißtrauens“ (Christoph Demke vom Rat der Kirchenleitung Sachsen). Und der Magdeburger Altbischof Werner Krusche sah die Herren vom MfS „auf neue Weise das alte Geschäft der Stasi weiterbetreiben; das für das Zusammenleben der Menschen notwendige Vertrauen zueinander zu zerstören und das gegenseitige Mißtrauen zu fördern“.

Die Kirchenleute wehrten sich, sämtliche politische Altlasten unter dem Vermerk „Stasi“ abzuhandeln und Vergangenheitsbewältigung als Regelanfrage bei der Gauck-Behörde zu begreifen. „Eine biblisch sachgemäße Bewältigung besteht aus dem Bekenntnis der Schuld, also aus Beichte und Vergebung“, hieß es in der Zeitschrift 'Die Kirche‘.

Doch die Bemühungen der Glaubensvertreter um die Feindesliebe besonderer Art — gegenüber einem verborgenen äußeren Feind und gegen die eigenen Rachegefühle — wurde von den Feinden nicht gewürdigt. Nur eine Handvoll geweihter Schnüffler ging zur Beichte, der Rest vertraut weiter auf die Sicherheit der Lüge.

Zögerlich begannen die Protestanten zu begreifen, daß ihre Kirche der sozialethischen Verantwortung nicht gerecht wurde. Vertrauensverlust drohte. Was die Hüter der Moral in ihren eigenen Reihen verschleppten, war Futter für die Medien, Fraß für die Regenbogenpresse. „Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, daß die Kirche irgend etwas aus der Vergangenheit vertuschen will“, warnte der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer.

Die Thüringer waren die ersten, die Mitte März eine generelle Überprüfung der beamteten kirchlichen Mitarbeiter und aller Synodalen beschlossen. Mecklenburg ist dem gefolgt. Prompt war von „geistlicher Bankrotterklärung“ die Rede, wurde Märtyrertum gefordert: „Mutig können allein jene Synodalen genannt werden, die — obwohl sie keine IM waren — gegen diesen Beschluß stimmten. Denn sie werden nun sicher erst einmal verdächtigt“, winkte der Ostseepfarrer Ulrich von Saß mit dem Holzkreuz.

Die Kirchenvertreter ließen sich viel Zeit mit einer Entscheidung — die meisten Provinzen bis zur Herbstsynode. Bei der Mehrzahl kam, wie in Sachsen, nur eine „dringende Empfehlung“ an die eigenen Leute heraus, die Überprüfung selbst zu beantragen. Schließlich raffte sich auch die EKD zu einer Reaktion auf und beschloß, einen Vorermittlungsausschuß einzurichten, der Verdächtigungen klären soll.

Menschen- und Engelszungen

Besonders befangen war Berlin- Brandenburg. Nicht nur, daß man die Wiedervereinigung auf landeskirchlicher Ebene zu bewältigen hatte. Auch war hier die Lobby gegen die Behandlung der Stasimachenschaften besonders stark. „Ich mußte mit Menschen- und mit Engelszungen reden“, erzählt der Ost- Pfarrer Arndt Farack. Als Vorsitzender des Synodalausschusses „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ predigte er einen offensiven Umgang mit der Altlast. Acht Tagungen des Kirchenparlaments waren nötig, bis es sich entschloß, im Stasi-Brei zu rühren. Doch so, daß die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut: Die eine sucht nach den „Schweinehunden im Priesterrock“, die andere seelsorgt sich um die „armen Schweine“, die die Stasi straucheln ließ.

Die Kirchenleitung setzte Anfang Dezember eine Seelsorgegruppe und einen Überprüfungsausschuß ein. Die Seelsorgegruppe, hat „die Aufgabe, sowohl Mitarbeiter anzuhören, die ihre Stasi-Verstrickung offenbaren, als auch Anlaufstelle für Opfer der Staatssicherheit zu sein, deren Bedrängnis möglicherweise durch kirchliche Mitarbeiter mitverursacht wurde.“ Frist für die Offenbarung ist der 29. Februar 1992.

Der Überprüfungsausschuß soll „alle kirchlichen Mitarbeiter befragen, ob sie sich vom Staatssicherheitsdienst haben anwerben lassen, und welches Ausmaß und welche Folgen ihre Verstrickung gehabt hat. Zugleich kann der Überprüfungsausschuß Auskünfte beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen einholen, auch ohne daß ein konkreter Verdacht vorliegt.“ Die Zusammenarbeit mit dem MfS kann „als wichtiger Grund für eine Entlassung aus dem Dienst (...) angesehen werden.“ Aber eine Regelüberprüfung aller Mitarbeiter ist nicht vorgesehen.

Das läßt diejenigen, die Aufklärung verlangen, ihre Demut vergessen. Ludwig Mehlhorn, Referent im Bildungsministerium des Landes Brandenburg, „versteht es auch nicht“, warum sich seine Kirche so lange vor dem Stasi-Problem drückte. Er will einen „aktiven Aufarbeitungsprozeß“, der Regelüberprüfung einschließt. Die Novembersynode versuchte die Kritiker ihres Beschlusses einzubinden und berief Mehlhorn in den Überprüfungsausschuß.

„Versöhnung auf der Basis von Wahrheit und Recht“ fordert auch Erhart Neubert von der Studienstelle der EKD. „Vergebung und offener Umgang miteinander“ setzten für ihn eine Regelüberprüfung voraus. Er beruft sich auf das Kirchenrecht: „Der Bruch der Kirchenverfassung besteht in der klar eingrenzbaren Tatsache, daß bei Stasi-Mitarbeit der Zugriff des Staates auf kirchliche Belange ermöglicht wurde.“ Ebenso eindeutig verhalte es sich in dienstrechtlicher Hinsicht: „Ordinierte Theologen haben als Stasi-Mitarbeiter ihr Ordinationsgelübde gebrochen, das Beichtgeheimnis verletzt, Verschwiegensheitsverpflichtungen übergangen und Schaden den ihnen anvertrauten Gemeindeglieder zugefügt.“

Die Kollaborateure sehen das offenbar anders. Der Ostberliner Pfarrer Gottfried Gartenschläger — spektakulär als IM „Barth“ aufgeflogen — will reine „Missionsarbeit“ geleistet haben. „Ich bin der Meinung, auch bei diesen Leuten mitunter das eine oder andere mit bewegt zu haben“, salbaderte er über seine 15jährige Arbeit für das MfS. Seine Gemeinde glaubte ihm und jagte ihn nicht zum Teufel.

Dabei hatten es Pfarrer noch einfacher als andere DDR-Menschen, den Anfechtungen zu widerstehen. Richard Schröder, Dozent am Sprachenkonvikt, der kirchlichen Hochschule in Ost-Berlin: „Die Pfarrer wußten immer, was zu tun war, wenn die Stasi kommt: Keine dienstlichen Informationen weitergeben und umgehend die vorgesetzte Dienststelle informieren.“ Ohne Konspiration machte es den Versuchern keinen Spaß. In der Regel ließen sie dann ab von ihrer Beute. Schröder will die Sünder nicht aus der Kirche verbannen, aber wer so eklatant Vertrauen mißbraucht habe, könne nicht in Vertrauenspositionen bleiben. Die Vergangenheit lade zu Erpressungen und Abhängigkeiten ein.

Stasi-Stigma und West-Räson

Was für Schröder ein klares Kriterium für das Verbleiben im Kirchenamt ist, ist für Friedrich Winter Stellenstreichung mit Hilfe der Stasi. Denn auch die Kirchen müssen entlassen. „Ist es wirklich recht“, fragt sich der Präsident der Kirchenkanzlei der EKD, Bereich Ost, „daß das Interesse, Stellen zu reduzieren, gekoppelt wird mit einer Grobdurchsicht der Stasi-Akten?“ Härter wettert Propst Furian. Ganz unchristlich äußert er den Verdacht, daß die Ost- Kirche mit Hilfe des Stasi-Stigmas diszipliniert werden soll: sowohl von den westlichen Brüdern als auch vom Staat. „So soll unsere Kirche zwar nicht untergehen, aber faktisch eben doch ihre Glaubens- und Lebenserfahrungen aufgeben, um angepaßt und materiell herausgefuttert die religiöse Begleitmusik zur sozialen Marktwirtschaft zu spielen.“ Wer einen „systemimmanenten Protestantismus“ wolle, für den sei seine Kirche „ein Störenfried, der zur westlichen Räson“ gebracht werden müsse — mit der Allzweckwaffe Staatssicherheit.

Versöhnung ist in Post-DDR-Zeiten, in Zeiten der Agonie des Kraken, offenbar nicht automatisch zu haben. Und „billige Gnade“ — das wußte auch schon Dietrich Bonhoeffer — ist eben gar keine.