Wenn Frauen die Macht boykottieren

Über die unterschätzten Möglichkeiten des japanischen Parlamentarismus  ■ Aus Tokio Georg Blume

Wo immer von den Zentren japanischer Macht die Rede ist, bleibt eines unberücksichtigt: das japanische Parlament. Hunderte von Analytikern haben Nippons legendäre „Herrschaft der staatlichen Bürokratie“ untersucht; oder sie spürten die „Einparteiendemokratie“ unter der Kontrolle der Liberaldemokraten auf. Andere wieder folgten den Einflüssen der mächtigen „Zaikai“- Unternehmerverbände. Doch niemand ging je ins Parlament, um zu wissen, wer Japan regiert.

Dabei wäre das doch eigentlich das Naheliegendste. Seit immerhin 44 Jahren funktioniert in Japan eine parlamentarische Demokratie, deren formal höchstes Entscheidungsgremium selbstverständlich das Tokioter Abgeordnetenhaus bildet. Nur glaubt an diese Demokratie eben keiner. Bisweilen führt das zu grotesken Fehleinschätzungen.

Wer hätte denn vorausgesagt, daß ausgerechnet das japanische Parlament den Weltpolitikern in Tokio und Washington einen Strich durch die Rechnung macht, als es vergangenen Freitag das japanische Blauhelm-Gesetz für Monate auf Eis legte? Auch könnten die internationalen GATT-Verhandlungen noch in letzter Minute scheitern, weil die Tokioter Nationalversammlung auf ihrem Reisimportverbot besteht. Da nutzt dann auch die Kompromißbereitschaft der japanischen Regierung nichts. Wie wir auch immer die japanische Politik betrachten, es wäre fahrlässig, das Parlament zu übersehen.

Zumal die höchste demokratische Instanz trotz aller Ungerechtigkeiten im Wahlsystem und aller Mängel im Repräsentanzsystem der Parteien ein Forum für die gesellschaftliche Auseinandersetzung bietet, deren Ausstrahlung gerade in Japan nicht zu unterschätzen ist. Da ging doch neulich eine junge Abgeordnete der Sozialdemokraten sogar mit Hut ins Parlament. Den Ärger der alten Herren konnte man sich vorstellen. Sofort mußte sich der Parlamentspräsident mit der Sache beschäftigen — aber im ganzen Land lachten die Frauen über ihre greisen Regenten. Solche Gelegenheit bietet eben nur die Demokratie.

Außerdem gibt es in diesem viel zu selten gewürdigten Parlament immer noch ein paar alte Kommunisten, die alle Spielregeln des Machtboykotts so perfekt beherrschen, daß es ihnen manchmal gelingt, sogar die Allerreichsten dieser Erde zur schamvollen Verbeugung zu zwingen. So nämlich geschehen im August, als Kommunisten und Sozialdemokraten damit reüssierten, die Vorsitzenden von Nomura und der Industrial Bank of Japan, dem respektive größten Wertpapierhaus weltweit und der in Japan mächtigsten privaten Finanzinstitution, vor einen Untersuchungsausschuß zu laden. Das waren also genau dieselben Finanzgewaltigen, vor denen unser Bundeswirtschaftsminister, wenn er für Investitionen in den neuen Bundesländern wirbt, nur auf Knien gekrochen kommt. Im August war es denn das erste Mal in der japanischen Industriegeschichte, daß diese Herren vor dem Volk Rechtfertigung ablegen mußten. Auch solche Gelegenheit bietet eben nur die Demokratie.

Den Nutzen des Parlamentarismus haben die Frauen in Japan offenbar besser als die Männer verstanden. Schon Mitte der siebziger Jahre brachte die spätere Parteichefin der Sozialdemokraten, Takako Doi, den Sextourismus japanischer Männer als internationales Problem vor das Parlament. Mit dem Erfolg, daß Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Seither ahmen Hunderte von weiblichen Mandatsträgerinnen in allen Parlamenten des Landes das Beispiel Takako Dois nach. Mit dem Erfolg, daß Atomkraftrisiko, Umweltverseuchung, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Gleichbehandlung der Mädchen in den Schulen und viele andere Themen mehr heute offen diskutiert werden können.

Die differenzierte Wahrnehmung machtpolitischer und manchmal auch demokratischer Einflüsse in Japan paßt freilich nicht in die Schreckensvision der „Japan AG“, die westliche Polemiker für alle zukünftigen Handelskriege dieser Welt verantwortlich machen wollen.

Denn die vielgescholtene „Japan AG“ verfügt über kein Parlament; in den Köpfen ihrer Kritiker besteht sie ja nur aus Sony, Toyota und Co. Etwas mehr Demokratie sollten wir den Japaner Innen doch zutrauen.