Das schwedische Modell am Scheideweg

Mit dem Verkauf von Staatsbeteiligungen soll die Wirtschaft aus dem Konjunkturtief gezogen werden  ■ Von Erwin Single

Zum Weihnachtsfest wartete Schweden mit einem besonderen Geschenk für seine Bürger auf: Die Staatsfirmen des skandinavischen Musterlandes sollen auf den Markt kommen, und das zu Vorzugskonditionen für Mitarbeiter und Bevölkerung. Mit einer Reprivatisierung und stärkeren ausländischen Kapitalbeteiligungen, hat sich Wirtschaftsminister Per Westerberg in den Kopf gesetzt, soll die schwedische Wirtschaft völlig umgekrempelt werden. Der Reichstag in Stockholm hat für die Pläne inzwischen grünes Licht gegeben. In den nächsten zehn Jahren, so die liberal- konservative Regierung unter Ministerpräsident Carl Bildt, werde der Staat für die veräußerten Staatsbeteiligungen rund 10 Mrd. Kronen (rund 2,7 Mrd. Mark) kassieren.

Auf die Verkaufsliste werden die Staatsanteile von 35 Unternehmen gesetzt, die teilweise gute Renditen versprechen. Darunter sind der Pharma- und Lebensmittelkonzern Procordia, der Mischkonzern Celsius, die skandinavische Fluggesellschaft SAS, die Nordische Satellitengesellschaft oder das Stahlunternehmen Svensk Stal AB. Vor allem auf die Perle des schwedischen Industriebesitzes, die Celsius-Gruppe, haben bereits einige ausländische Investoren ein Auge geworfen. Zu dem Konzern, der jährlich rund 8,7 Mrd. Kronen Umsatz macht, gehört unter anderem die riesige Kockums-Werft sowie die Hälfte an dem staatlichen Rüstungshersteller Swedish Ordnance. Doch auf den meisten der angepriesenen Objekte wird der Staat sitzenbleiben, denn Unternehmen wie die Forstwirtschaftsriesen Domänverket und ASSI, das bankrotte Kreditinstitut Nordbanken oder der Papierhersteller NCB bergen angesichts tiefroter Bilanzen allenfalls den Charme von Ladenhütern.

Doch nicht nur die einstigen Renommierbetriebe, ganz Schweden steckt in der schwersten Wirtschafts- und Beschäftigungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit Anfang 1989 ist die Industrieproduktion um 13,5 % gesunken; über 100.000 Beschäftigte verloren ihre Stellen und haben die Arbeitslosenquote in dem einstigen Vollbeschäftigungsland auf über fünf % anwachsen lassen.

Auch für Schwedens Exportindustrie brachen schlechte Zeiten an. Volvo verkaufte 1990 11 Prozent, Saab sogar 16 Prozent weniger Autos. Ähnlich wie den Autobauern, die seit jeher Schwedens Wirtschaftsindikator abgaben, ging es fast allen Konzernen: Die Bilanzen von Electrolus, Alfa Laval, SKF oder Atlas Copco fielen nicht viel besser aus. Noch härter traf es Schwedens Banken, die allesamt hohe Verluste einfuhren. Die schwedische Versicherungsgesellschaft AB Njord mußte im September gar Konkurs anmelden.

Die Wirtschafsflaute reißt immer tiefere Löcher in die Staatskasse; für das Haushaltsjahr 1992/93 wird mit einem Defizit von bis zu 100 Mrd. Kronen (rund 26,9 Mrd. Mark) gerechnet. Schweden, beim Bruttosozialprodukt pro Kopf Ende der 70er Jahre weltweit Ranglistenerster, ist längst ins Mittelmaß abgerutscht. Für 1991 rechnen die Konjunkturinstitute mit einem negativen Wachstum von rund einem halben Prozent.

Das Vorbild als „dritter Weg“ zwischen Marktwirtschaft und Staatskapitalismus scheint als Muster ausgedient zu haben. Das schwedische Modell, Jahrzehnte lang von seinen Gegnern als pseudosozialistisches Experiment eines überzogenen Wohlfahrtsstaats mit Gleichmacherei, horrenden Steuern, aufgeblähtem öffentlichen Sektor und geringem Innovationsgrad verspottet, läuft nicht mehr rund. Längst haben Wirtschaftsexperten die Staatswirtschaft samt ihrer riesigen Bürokratie und niedriger Produktivität als Schuldigen ausgemacht. 60 Prozent der Industrie befindet sich in Staatsbesitz; allein über 40 Prozent der Erwerbstätigen sind im öffentlichen Sektor beschäftigt.

Die aktive Strukturpolitik, dereinst von Staat und Gewerkschaften gleichermaßen vehement vollzogen, scheint zum Erliegen gekommen zu sein. Als Handicap entpuppt sich auch, daß das Land immer mit einer erhöhten Inflationsrate leben mußte. Seit aber die solidarische Lohnpolitik, die zusammen mit der permanenten Qualifizierungsoffensive die Geldentwertung im Rahmen gehalten hatte, zu bröckeln begann, geriet das ganze System ins Wanken. Bereits im Jahresdurchschnitt 1990 war die Inflationsrate auf 11 Prozent geklettert. Auch mehrten sich die Stimmen, die solidarische Lohnpolitik laufe wie die hohen Steuern der Produktivkraftentwicklung zuwider. Die einheitlichen Lohnleitlinien waren von Unternehmen untergraben worden, als diese begannen, ihren Mitarbeitern Gewinnbeteiligungen zu gewähren.

Schwedens Industrie war es auch, die als erste vor der drohenden Rezession das Weite suchte. Vor allem die Privatunternehmen sorgten mit spektakulären Firmenaufkäufen weltweit für Aufsehen. Die Exportindustrie, stellte der Industrieverband fest, habe die jahrelange Hochkonjunktur zur eigenen „Konsolidierung und Internationalisierung“ genutzt. Ihr Beweis: Die 25 größten Industriekonzerne beschäftigten ausnahmslos mehr Menschen im Ausland als in Schweden.

Als Reaktion auf die anhaltende Kapitalflucht hob die Reichsbank Anfang Dezember die Leitzinsen von 11,5 auf 17,5 Prozent drastisch an. Vor der Notaktion waren innerhalb von zwei Wochen allein über 29 Mrd. Kronen ins Ausland tranferiert worden. In der massiven Kapitalflucht sieht Ministerpräsident Bildt eines der derzeit größten Probleme, besonders seit den Beschlüssen zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Bereits im Sommer hatte die damals noch amtierende sozialdemokratische Regierung ein Beitrittsgesuch beim EG-Ministerrat eingereicht. Bildt will das Land ins Fahrwasser der EG-Beschlüsse manövrieren und setzt neben einer Erneuerung des Produktionsbereichs auf Subventionskürzungen und Steuersenkungen. Doch aus dem beschworenen Jahrzehnt des Aufbruchs kann leicht eine Bauchlandung werden, wenn die Bevölkerung und die mächtigen Gewerkschaften die konservativen Reformvorstellungen nicht mittragen.