Verspätete Kontrolle der Lingener Atomfabrik

■ Nach Hanauer Unfall: Umweltministerin Monika Griefhahn läßt sich zwei Monate Zeit

Im rot-grünen Niedersachsen führt der Atomkonzern Siemens ein ruhigeres Leben als im rot-grünen Hessen. Nach einer Wasserstoffexplosion hatte der hessische Umweltminster Joschka Fischer schon Ende Oktober 1991 eine Überprüfung der dortigen Siemens-Brennelementefabrik durch den TÜV angeordnet. Auch im niedersächsischen Lingen betreibt Siemens eine Anlage zur Herstellung von Brennelementen für Atomkraftwerke: die „Advanced Nuclear Fuel Limited“ (ANFL). Doch erst am kommenden Dienstag reist ein Mitarbeiter von Niedersachsens Umweltministerin Monika Griefhahn an die Ems, um sich die Prüfberichte für die Wasserstoffleitungen anzusehen.

„Die Kontrolle der Prüfberichte erfolgt erst jetzt, weil in Lingen eine andere Sachlage besteht als in Hanau“, so Griefhahns Sprecherin Barbara Mussack. Bei Siemens in Hanau seien die Wasserstoffleitungen vor Fischers Anordnung nie überprüft worden, in Lingen dagegen schon. Bei der Inbetriebnahme des ANFL- Werkes habe der TÜV Hannover sich die Leitungen angesehen, und danach seien private Sachverständige damit beauftragt gewesen, so Mussack.

Nach Informationen des Umweltministeriums in Hannover hatte nur wenige Tage nach dem Hanauer Wasserstoffunfall schon einmal ein Mitarbeiter die Lingener Atomfabrik aufgesucht. In einem Gespräch mit der Werksleitung hatte er sich darüber informiert, daß die Wasserstoffleitungen mit geringerem Druck belastet sind als die in Hanau. Ein weiterer Unterschied: In Lingen steht ein fester Tank für das explosive Gas, während die Hanauer Anlage mit mobilen Druckflaschen versorgt wird. Aufgrund dieser Erkenntnisse war die Kontrolle der Dokumentation einstweilen unterbleiben, in der die Sachverständigen die Ergebnisse ihrer regelmäßigen Überprüfungen niederlegen müssen.

Auch ein schriftlicher Bericht des Gewerbeaufsichtsamtes Osnabrück liegt dem niedersächsischen Umweltministerium bisher nicht vor. Das Ministerium hatte die Gewerbeprüfer nach dem Hanauer Unfall in Richtung Lingen in Marsch gesetzt. Bisher hat das Gewerbeaufsichtsamt nur telefonisch durchgegeben, daß bei ANFL soweit alles in Ordnung sei.

Kurz vor Ende des Jahres 1991 beschwerte sich der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), daß Monika Griefhahn die Öffentlichkeit über ihr Vorgehen im Fall Lingen nicht unterrichtet habe. BBU-Sprecher Eduard Bernhard forderte die sofortige Überprüfung der Lingener Atomanlage ein — und die Stillegung, falls Sicherheitsmängel festzustellen seien.

Das niedersächsische Umweltministerium hatte erst Mitte 1991 einen weiteren Ausbau der Lingener Atomfabrik genehmigt. Ein Jahr zuvor war das Brennelementewerk Schauplatz eines bis dahin einmaligen Vorgangs: Die europäische Atomenergiebehörde Euratom hatte die Fabrik für vier Monate unter Zwangsverwaltung gestellt, weil 130 Kilogramm schwach angereichertes Uran abhanden gekommen waren. och