Lachen und Weinen nah beieinander

Ein Komödiant, ein großes, anarchistisches, weises Kind: Der Schauspieler Curt Bois (1901-1991) ist am 1. Weihnachtsfeiertag gestorben/ Beerdigungsbrimborium wollte er nicht  ■ Von Klaus Nothnagel

Berlin (taz) — In seinen letzten Lebensjahren machte Curt Bois gern Liegeproben im Sarg: „Damit ich weiß, wie ich aussehe, wenn ich endlich tot bin!“ — Eine für ihn typische Aktion: Ein Witz, halb makaber, halb leichtfertig, aber auf einem Untergrund von tiefem Ernst, von Wissen um Härten des Lebens, von einer gewissen Altersmüdigkeit wohl auch, soweit es ihn selbst betraf.

Er war einer dieser hierzulande seltenen Komödianten, bei denen Lachen und Weinen ganz nah beieinander liegen, manchmal in eins fallen. Kein Wunder, daß sein letzter Film ein so klassisches Minderheitenwerk vom und fürs Bürgertum war, Wim Wenders Himmel über Berlin. Das Massenpublikum, die Fernsehkundschaft begnügt sich begeistert mit Überrumpelungs- und Ablenkungslachnummern, würde einen wie Bois wohl gar nicht mehr verstehen, würde nur die Nase rümpfen über seine Abgründigkeit, sein kindisch-weises Narrenwesen. So war auch seine letzte Fernsehrolle nur für eine Minderheit: In einer Folge der Serie Kir Royal spielte er einen sterbenden deutschen Schauspieler, der sich selbst kurz vor dem Tod noch weigerte, je wieder einen Fuß in sein Land zu setzen. Mindestens die Sturheit war ihm auch privat wohlbekannt; als Otto Sander und Bruno Ganz ihr Doppelporträt von Claus Bois und Bernhard Minetti (Gedächtnis) drehten, war Bois, der Emigrant, nicht zu bewegen, gemeinsam mit Minetti, dem Schauspieler des Nazi- und Nachnazi- Deutschland, auch nur sekundenweise gemeinsam vor der Kamera zu erscheinen.

In der Emigration wurde er einer der ganz großen Neben- und Kleinrollendarsteller Hollywoods: Sein berühmtester Auftritt war der Taschendieb in Michael Curtiz' Casablanca; auch mit Buster Keaton hat er einen Film gemacht (und sich dabei als durchaus ebenbürtig erwiesen). Daß er überhaupt nach Deutschland zurückkehrte, hatte mit dem Entstehen der DDR zu tun; ohne sich Illusionen zu machen, glaubte er zumindest in den ersten Jahren, in einem endgültig nichtfaschistischen Deutschland arbeiten zu können. Brecht traf er Anfang der Fünfziger auf der Straße. Auf seine Frage, was er denn am „Berliner Ensemble“ gern spielen würde, sagte Bois: Puntila! Auf Brechts irritierte Nachfrage, ob er nicht doch eher Matti gemeint habe, beharrte Bois, Brecht riskierte die kühne Besetzung — und Bois bewies, daß der versoffene Gutsherr nicht bullenhaft groß, breit und grummelig sein mußte, sondern eben auch zart, klein, schmal und auf schaurig-komische Art stinkig sein konnte. Schade, daß Bois das Angebot des mutig gewordenen Brecht, Kleists Dorfrichter Adam zu spielen, nicht annahm. Er traue sich die Kleistschen Verse noch nicht zu, sagte er — als Fünfzigjähriger!

Ein Jahrzehnt später, an den Staatlichen Bühnen Berlins, ermunterte er seinen zwölfjährigen Bühnenpartner Ilja Richter mit den Worten: „Wir Kinderdarsteller müssen zusammenhalten“, sagte ihm aber auch voraus, in Deutschland werde es wieder schamlosen Rechtsradikalismus, Rassismus, Antisemitismus geben. Daß der Junge nicht nach Amerika emigrieren wollte, 1964, konnte Bois nur schwer verstehen.

Als Molières eingebildeter Kranker in Fritz Kortners Inszenierung muß er gewaltig gewesen sein; in Kortners Biographie kann man Amüsantes und Grüblerisches über Bois nachlesen. Dieses große Kind, sagte Kortner sinngemäß, sei völlig unbelehrbar; aber was Bois andrerseits ohnehin virtuos könne, sei absolut unerlernbar. Die Kräche der beiden Giganten müssen erdbebenhaft gewesen sein. Sie arbeiteten immerhin wieder zusammen: Shakespeare, Molière, Shaw und anderes.

In seinen Memoiren, bei deren Lektüre kein Stuhl trocken bleibt, schreibt Bois, der wie so viele Komödianten als Kinderstar anfing, ausführlich über seine ersten Bühnenauftritte. In der Operette Der fidele Bauer hatte er als „Heinerle“ seinen ersten Riesenerfolg gehabt. Bei der nächsten Premiere fiel die Reaktion dünner aus. Der achtjährige Curt takelte Maske und Kostüm ab und schrie ins Publikum: „Ich bin's doch, euer Heinerle!“ — Applaus.

So schlecht war mir noch nie hieß der erste Band seiner Memoiren (benannt nach dem Ausspruch eines Bekannten, der unmäßig Himbeerbonbons zu sich genommen hatte), Zu wahr, um schön zu sein der zweite. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viele kluge Gedanken, zeitgeschichtliche Details und hemmungslose Witze in einem einzigen Buch gelesen zu haben wie im ersten Memoirenband von Bois.

In den letzten zwei Lebensjahrzehnten freundete sich Bois mit dem Dramatiker Wolfgang Deichsel (Frankenstein. Aus dem Leben der Angestellten) an; in Deichsels merkwürdigerweise überall geflopptem Clownsdrama Zapzerrapp finden sich deutliche Spuren des Boisschen Unwesens. Zwei der Clowns duellieren sich mit Titeln der Weltliteratur, in denen allerdings immer das Wort „Hose“ vorkommen muß: Vor Hosenaufgang, Hose und Liebe, Die Hose (von Tschechow!) usw.

Als Bois eine Platte mit Schiller- Gedichten aufnehmen sollte und sich nicht ganz klar war, ob er Lust hatte, schlug er vor, abwechselnd Schiller und Anekdoten aus seinem eigenen Leben aufzunehmen. Daß der Produzent das keine gute Idee fand, konnte Bois nicht begreifen.

Einer seiner letzten öffentlichen Auftritte in Berlin war anläßlich einer hochoffiziellen Geburtstagsehrung, mit Senat und Stars und Reden. Bois fiel irgendwann auf die Knie, um das „Heinerle“ noch einmal in der originalen Körpergröße singen zu können.

Ein vollkommen wahnwitziger Typ, ein ernster Mann, ein aufrichtiger Oppositioneller gegen alles, was mieses Deutschland war und ist — und ein großes, anarchistisches, weises Kind: „Kinderdarsteller müssen zusammenhalten.“