Streit um Aufteilung der Sowjetarmee

Rußland und die Ukraine im Clinch/ Kiew will ganze Schwarzmeer-Flotte/ Auch weitere Republiken basteln an eigener Armee/ Wenig Gemeinsamkeiten in der neuen Gemeinschaft  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Es ist wie beim Boxen. Manchmal muß man in den Clinch gehen, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen“, kommentierte Iwan Dratsch, Kopf der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“, jüngst die überraschende Entscheidung der Chefs der drei slawischen Republiken auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR, einen Dreierbund zwischen Rußland, der Ukraine und Weißrußland zu gründen. Das war vor knapp vier Wochen in Brest. In der Zwischenzeit mauserte sich der Bund zur „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS). Seither machen die meisten Unterzeichnerstaaten Dratschs Worte zu ihrem Credo. Es gilt dem Eindruck entgegenzutreten, die GUS-Vereinbarungen könnten als Einverständnis weitreichender Gemeinsamkeit mißinterpretiert werden. Jüngstes Beispiel sind die Ankündigungen Weißrußlands, Usbekistans und Turkmenistans, nun doch die Gründung eigner Armeen ins Auge zu fassen. Damit schrumpfen die gemeinsamen Streitkräfte der Gemeinschaft auf Rußland, Kasachstan, Armenien, Tadschikistan und Kirgistan zusammen. Im Brester Abkommen hatte es noch geheißen: „Die Teilnehmerstaaten werden unter einem vereinigten Kommando den gemeinsamen militärischen Raum erhalten.“ Auch die Ukraine stimmte damals zu, machte aber bereits auf dem Folgetreffen in Alma- Ata einen Rückzug.

Seither versucht der vorübergehende Oberkommandierende Marschall Schaposchnikow die Wogen zwischen Moskau und Kiew zu glätten. Die Lage der Streitkräfte, so sein Zwischenergebnis, sei kritisch. Zum Zeitpunkt der Gründung hätten sich noch akzeptable Lösungswege abgezeichnet. Im Streit um die Schwarzmeerflotte, die etwa dreihundert Kriegsschiffe umfaßt, sind beide Seiten nicht weiter gekommen. Die Ukraine erhebt Anspruch auf die ganze Flotte: „Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat mit Seegrenzen und muß ihre eigene Flotte haben“, meinte der ukrainische Verteidigungsminister Morozow, von Geburt selbst ein Russe. Er gab bekannt, daß die Ukraine am 12. Januar ihre eigenen Grenztruppen vereidigen wolle.

Gewehr bei Fuß konterte der Vorsitzende des russischen Parlaments, Ruslan Chasbulatow: „Versuche, sie unter eine bestimmte Flagge zu bringen, Versuche, sie auf einen individuellen Schwur zu verpflichten — als Vorsitzender des russischen Parlamentes halte ich das für ganz und gar illegitim. Alle unsere Soldaten werden unter unserem Schutz, unter dem Schutz des russischen Staates sein.“ Schließlich habe Rußland bei der Schaffung der Sowjetarmee die Hauptrolle gespielt.

Indessen gehen die Vorbereitungen zur Loslösung der ukrainischen Streitkräfte aus dem Unionsverband unvermindert weiter. Die ersten Soldaten haben schon vergangene Woche den neuen Eid geleistet. Wer sich dem widersetze, so Morozow, solle entweder in den Ruhestand gehen oder sich in eine andere Republik versetzen lassen. Doch die meisten der ohnehin durch soziale Schwierigkeiten verunsicherten Soldaten werden den neuen Anordnungen Folge leisten.

Insgesamt dienen 75.000 russische Offiziere, das entspricht etwa einem Drittel des gesamten sowjetischen Offizierskorps, und einige tausend Soldaten anderer Nationalitäten auf ukrainischem Territorium. Schaposchnikow warf der Ukraine vor, den Heeresaufbau zu hastig zu betreiben. Die Reform der Sowjetarmee mit rund 3,7 Millionen Dienstleistenden bräuchte zwei bis drei Jahre. Er plädierte dafür, nationale wie GUS-Streitkräfte zunächst nebeneinander zu erhalten.

Die Chancen für einen Kompromiß zwischen den beiden größten Republiken stehen schlecht. Am Ende wird sich die Ukraine mit ihren Vorstellungen durchsetzen können. Konstantin Morozow sah denn auch gar keine Anhaltspunkte für zukünftige Reibereien: Konfrontation hinsichtlich der Zugehörigkeit der Streitkräfte werde es nicht geben. Über der Ukraine hängt Rußland wie ein Damoklesschwert. Zwischen Moskau und Kiew liegt die Hoffnung Europa. Und in Kiew versteht man Russisch erst mal nicht mehr.