DEBATTE
: Zwischen Liebe und Vernunft

■ In Serbien droht die Orthodoxie den Kommunismus als Staatsideologie abzulösen

Vor der jugoslawischen Botschaft in Moskau ist im vergangenen Dezember ein junger orthodoxer Russe, Jaroslaw Jastrebow, in einen Hungerstreik getreten. Sein Motiv: Er wollte Serbien auffordern, der damals gerade gegründeten slawischen Union Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine beizutreten. Das Belgrader Fernsehen hat die Aktion gefilmt und groß herausgebracht.

Die serbischen Medien sind von Jaroslaw Jastrebow begeistert. Sie sehen in ihm den einzigen ausländischen Verteidiger des gerechten Anliegens des serbischen Volkes. Dieser Russe versteht heute mehr als sonst jemand die Hoffnungen und Wünsche Serbiens. Rußland wird das Land der Wunder und der Magier. Dort selbst aber scheint niemand im Hungerstreik für das Wohlergehen Serbiens und Montenegros eine ernsthafte politische Aktion zu sehen.

Doch der Zeitpunkt ist gut gewählt. Mitten während des größten Mißverständnisses zwischen Serbien und dem Rest der Welt solidarisiert sich ein orthodoxer Russe mit Serbien über einen Hungerstreik, das letzte Mittel der Machtlosen.

Die Erscheinung Jaroslaws Jastrebows stellt die stachelige Frage nach der serbischen Identität. Wenn man auf die großen Experten und Sachverständigen hört, dürften die Serben nichts mehr unternehmen, bevor sie wissen, wer sie sind und woher sie kommen.

Nehmen wir einmal an, diese Suche nach den Wurzeln sei wirklich eine wesentliche Sache, wichtiger als die Gegenwart und die Zukunft, wie für jenen Vogel von Borges, dessen Augen sich am Hinterkopf befinden, weil es ihm wichtiger ist zu wissen, woher er kommt, als wohin er fliegt. Gewiß sind die Historiker und Schriftsteller besser in der Lage, solche Dinge zu ergründen, als Wirtschaftler und Geschäftsleute. Aber man wird nie eine befriedigende Antwort auf solche Fragen finden.

Denn die serbische Identität hat viele Wurzeln. Der Krieg mit den Kroaten zeigt, daß die Orthodoxie über das slawische Zusammengehörigkeitsgefühl obsiegt hat. Im vorhergehenden Konflikt mit den Kosovo-Albanern noch hatte der Panslawismus überwogen. Serbien mag vom Orient und von Mitteleuropa wenig beeinflußt worden sein. Aber wie soll man die serbische Kultur ohne diese Einflüsse begreifen? Wo beginnt Serbien? Wo sind die Grenzen? Hat die Schlange einen Schwanz?

Wie ein Individuum regrediert auch ein Volk auf ein tieferes mentales Niveau, sobald es seines Bezugsrahmens verlustig geht und keine Anhaltspunkte mehr hat. Es versucht, auf alte Verhaltensmodelle zurückzugreifen, die ihm einst geholfen haben, eine leichtere Situation zu verstehen. Und wenn sich die Frage der Identität von Grund auf neu stellt, ist die Regression noch tiefer, denn alles ist dann neu und unbekannt, das eigene Wesen eingeschlossen. Wie kann ein Volk so weit kommen, die Erinnerung an seine eigene Vergangenheit, seine Geschichte und seine Kultur zu verlieren? Gewiß, der Kommunismus hat versucht, einen Teil dessen, was er für „reaktionären Obskurantismus“ hielt, zu unterdrücken. Aber es wäre falsch, daraus alles erklären zu wollen.

Das Weltbild der serbischen Elite

Diese Geschichte der serbischen Gestörtheit und der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ist viel mehr eine Angelegenheit der nationalen Elite als des Volkes selbst. Dieses nämlich denkt wie immer nur ans Überleben, während die Elite, die keine materiellen Sorgen hat, das Volk anstachelt und in seiner angeblich verkümmerten Seele und seinem angeblich abgestumpften Wesen wühlt. Ihre Diagnose: hochgradig durch den westlichen Materialismus vergiftet. Ihre Therapie: orthodoxer Geist. Das Weltbild der serbischen Elite reduziert sich auf das billige Klischee: Im Westen leben die Leute gut, aber sie haben ihre Seele verloren, während im slawischen Osten das Gegenteil der Fall ist. Serbien muß zwischen einer Liebesheirat und einer Vernunftheirat wählen.

Wie alle Völker an der Ostgrenze Europas, hat sich Serbien immer dem Westen zugewandt. Von dort kam das Wissen, von dort kamen die Herausforderungen. Dort wurde alles verwirklicht. In dieser grob vereinfachenden Sichtweise hatte man den Osten hinter sich, wie eine schlechte Erinnerung. Man wendete sich dem Osten nur in Zeiten der Not, der Krise, der Angst und der Schwäche zu. Und diese Not hat in der Geschichte Serbiens wahrscheinlich nie zu einem solch verzweifelten Aberglauben geführt wie heute, wo man seine ganze Hoffnung auf die Prophezeiungen eines jungen orthodoxen Russen setzt.

Übrigens hat Jastrebow, bevor er nach Belgrad kam, versprochen, als Verstärkung russische Freiwillige mitzubringen, abgebrühte Afghanistan-Kämpfer. Sie sind nicht gekommen... Aber, vermutlich inspiriert vom Revisor Gogols, durchquert er jetzt in Begleitung seiner Mutter ganz Serbien... Hat schon jemand daran gedacht, was passieren würde, wenn, durch sein Beispiel ermuntert, Tausende russische orthodoxe Messiasse von ihren Müttern begleitet nach Serbien strömen würden?

Die Geschichte ist wahrscheinlich viel ernsthafter, als sie scheint. Rußland und die Reste der Sowjetunion befinden sich heute in einem ähnlichen Zustand wie Serbien: Sie suchen einen Ausweg. Sie sehen im Westen kein erstrebbares Modell mehr. Sie haben sich nicht für den freien Markt, die Menschenrechte, die bürgerlichen Freiheiten entschieden. Das Volk, die Erde und die Kirche nehmen den ersten Platz ein.

Zum Zeitpunkt, wo der Zusammenbruch des Kommunismus den Weg zu einer neuen Weltordnung, die auf dem westlichen Modell beruht, zu öffnen scheint, was man das „Ende der Geschichte“ genannt hat, wird nun alles wieder in Frage gestellt, und die Geschichte wird wichtiger denn je.

Erschüttert der Osten möglicherweise mit dem Zusammenbruch des Kommunismus den Westen mehr, als er es je zu Zeiten des stabilen Kommunismus tun konnte? Die Auseinandersetzung, die sich nun ankündigt, ist von neuer Natur. Heute geht es darum, ob der Westen das Ausmaß der Provokation rechtzeitig erkennt.

Die Tatsache, daß der Postkommunismus altmodisch und irrational scheint, darf nicht täuschen. Eine immense nationalistische Energie wird schon sehr bald freigesetzt werden. Vergessen wir nicht, an welchem Punkt sich der liberale Westen, der wirtschaftlich so erfolgreich ist, dem Kommunismus und Faschismus gegenüber fragil erwiesen hat.

Das Unglück Serbiens besteht nicht nur in der Tatsache, daß seine Führer noch Illusionen hegen, in den Spuren des Kommunismus weitermachen zu können, sondern auch darin, daß die Alternative die Orthodoxie als Staatsideologie ist. Hier gerade aber wird es gefährlich. Es besteht die Gefahr, daß sich diese zweite Option so sanft durchsetzt, daß man es kaum merkt. Bislang haben die serbischen Führer eine Wendigkeit und eine Anpassungsfähigkeit an den Tag gelegt, die größer sind, als sie eine Demokratie tolerieren kann. Infolgedessen ist im Kontext, den sie geschaffen haben, schlecht abzusehen, wo eine demokratische Gesellschaft entstehen könnte. Die Partei an der Macht kann so weit gehen und ihren Namen so oft wechseln, bis schließlich die Opposition aufgibt. Stojan Cerovic

Der Autor ist Redakteur der liberalen Belgrader Wochenzeitschrift 'Vreme‘, der obiger Beitrag auch entnommen wurde.