Rettungsprogramm steht in den Sternen

Polens desolate Wirtschaft hat die Talsohle noch nicht erreicht/ Neue Regierung ist ohne Konzept  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Polens neue Regierung steht vor einem schweren Erbe. Lautstark hat der neue Ministerpräsident Jan Olszewski von der Zentrumsallianz angekündigt, er wolle die Rezessionsbekämpfung zu seiner Hauptaufgabe machen. Doch wie der Kurswechsel vollzogen werden kann, scheint auch er nicht zu wissen. Von einer makroökonomische Stabilität ist man weit entfernt, und der Handlungsspielraum der Regierung ist schon von vornherein begrenzt.

Auch im vergangenen Jahr hat Polens Wirtschaft die Talsohle noch nicht erreicht. Die Produktion in der Industrie ging im Vergleich zum Vorjahr wieder um über 20 Prozent zurück. Damit wurde zwar das Abfallen von 36 Prozent im Jahre 1990 nicht mehr erreicht, doch beunruhigt die Experten, daß sich die Rezession im zweiten Halbjahr 1992 drastisch vertiefte. Nach wie vor sind besonders die Staatsbetriebe nicht imstande, sich den Marktbedingungen anzupassen.

Die Arbeitslosigkeit hat inzwischen elf Prozent erreicht; das Zentrale Planungsamt warnt sogar vor deren Verdoppelung im nächsten Jahr. Am stärksten betroffen sind das Transportgewerbe und der Handel, was zugleich allerdings als Indiz für einen verstärkten Strukturwandel gewertet werden kann. Gerade in diesen Bereichen verdrängen immer mehr Privatbetriebe die staatlichen Firmen. Der Privatsektor, der von Rezession und Arbeitslosigkeit viel weniger betroffen ist als der staatliche, absorbiert immer mehr Arbeitskräfte. Durchschnittlich 28 Prozent der aus Staatsbetrieben entlassenen Beschäftigten wechseln in Privatbetriebe über. Mit einem Anteil von 20 Prozent trug der Privatsektor in diesem Jahr zur Gesamtindustrieproduktion bei — ein Zuwachs von 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Über 800 Betriebe wurden in den letzten zwei Jahren privatisiert, trotzdem blieben die Einnahmen des Staatshaushaltes aus der Privatisierung weit hinter den Erwartungen zurück.

Die offiziellen Konjunkturdaten in Polen sagen wenig über den Zustand der Wirtschaft aus, da sie sich vor allem auf den Staatssektor stützen. Privatbetriebe werden von den Untersuchungen nur unzureichend erfaßt, weil sie in geringem Umfang gegenüber staatlichen Behörden auskunftspflichtig sind und sich zudem dieser eingeschränkten Pflicht häufig entziehen. Nach den offiziellen Statistiken verdienen Arbeitskräfte zum Beispiel bei ausländischen Firmen weniger als in der Staatsindustrie. Einzelfalluntersuchungen haben allerdings ergeben, daß genau das Gegenteil der Fall ist: Mindestens 15 Prozent mehr wird in der Privatwirtschaft bezahlt, in Auslandsbetrieben sind die Löhne sogar oft um ein Vielfaches höher — nur werden sie nicht deklariert.

Ähnlich ist die Lage im Außenhandel: Offiziell hat Polen zum Jahresende eine ausgeglichene Handelsbilanz von rund 13 Milliarden US- Dollar aufzuweisen. Inoffiziell weiß man aber, daß der Import durch Schmuggel und „wilde“, nicht gemeldete Privatimporte weit höher ausfiel. War 1990 ein Jahr des Exportbooms für Polen, so hat nun der Import stark aufgeholt. Das hängt damit zusammen, daß bis ins vierte Quartal 1991 der Zlotykurs lediglich um 15 Prozent abgewertet wurde und damit weit hinter der Inflationsrate herhinkte, die sich auf rund 50 Prozent belief. Inzwischen sinkt der offizielle Kurs um neun Zloty pro Tag, was die Entwicklung aber nicht ausgleichen konnte. Aufgrund des Devisenabflusses sanken Polens Devisenreserven.

Weitere Verluste an harten Währungen mußte Polen durch seine hohe Auslandsverschuldung hinnehmen. Zwar erreichte Polen eine Halbierung seiner Schulden bei ausländischen Staaten des Pariser Klubs, doch der Nachtragshaushalt für dieses Jahr sieht insgesamt immer noch Ausgaben von über einer Milliarde für den Gesamtschuldendienst einschließlich der Garantien und Bürgschaften vor. Dem gegenüber fallen die ausländische Investitionen von rund 800 Millionen US-Dollar geradezu bescheiden aus.

Zugleich stieg die Inlandsverschuldung drastisch um 65,3 Prozent an, trotz der Rezession wurden 40 Prozent mehr Kredite als 1990 aufgenommen. Der „Schuldenstau“, die gegenseitige Verschuldung der Betriebe untereinander, gehört zu Polens drängendsten Wirtschaftsproblemen. Durch gegenseitiges „Stunden“ wurde bisher nicht nur ein durchgreifender Strukturwandel verhindert, sondern häufig auch noch gesunde Betriebe in Mitleidenschaft gezogen. Eine Auflösung des Staus — der mit durch das unzulängliche Bankensystem verursacht wird — würde allerdings zu einer Serie von großen Konkursen führen, die viele Banken mit den Abgrund reißen würden. Die „innere Verschuldung“ blockiert nicht nur Reformen, sondern entzieht dem Staatshaushalt auch notwendige Mittel.

So hatte Polens Budget im vergangenen Jahr starke Ausgabenzuwächse im Sozialbereich zu verkraften, insbesondere bei der staatlichen Rentenversicherung. Zugleich blieben die Steuereinnahmen bis zu dreißig Prozent hinter den Erwartungen zurück. Polens Steuerzahler sind dem Staat bisher etwa 18,5 Billionen Zloty (rund 1,6 Millarden US-Dollar) schuldig geblieben. Das Haushaltsdefizit ist zum Jahresende von 26 Billionen auf ganze 31 Billionen angestiegen. Wie es gestopft werden kann, ist noch offen. Wahrscheinlich wird das Defizit über den Kreditmarkt gedeckt, da die Regierung ein weiteres Ansteigen der Inflation vermeiden möchte.

Die ohnehin leidgeprüfte Bevölkerung mußte im vergangenen Jahr ein weiteres Absinken der Realeinkommen hinnehmen. Unter den hohen Zinsen hatten am meisten die Bauern zu leiden, deren Einkommen von allen Berufsgruppen am stärksten zurückging. Der notwendige Strukturwandel in der Landwirtschaft ist ausgeblieben, nach wie vor dominieren unrentable Kleinstbetriebe. Die Hälfte aller Bauern verfügt über weniger als fünf Hektar Land, nur fünf Prozent der Betriebe bewirtschaften mehr als 20 Hektar. Neben den hohen Zinsen litten die Landwirte besonders unter dem Importboom, da polnische Produkte vielfach gegenüber subventionierten Billigimporten aus der EG nicht mehr konkurrenzfähig sind.

Die Zentrumsallianz, im Wahlkampf mit einem „Rettungsprogramm“ angetreten, will mit einer keynesianischen Rezeptur die Wirtschaft kurieren. Staatsbetriebe sollen entschuldet, die Nachfrage durch eine lockerere Geld- und Lohnpolitik angekurbelt und eine aktive Industriepolitik betrieben werden. Doch die knappen Finanzen lassen wenig Spielraum. So will auch der neue Regierungschef noch keine Versprechen wagen: Ein konkretes Wirtschaftsprogramm werde erst vorgelegt, wenn die Regierung die Lage analysiert habe.