Georgiens Heiland über alle Berge

■ Swiad Gamsachurdia, der "feinsinnige Poet", Shakespeare-Übersetzer und Baudelaire-Fan, der in der Politik als Mann mit der eisernen Faust bekannt wurde, ist unter wildwestähnlichen Umständen und der...

Georgiens Heiland über alle Berge Swiad Gamsachurdia, der „feinsinnige Poet“, Shakespeare-Übersetzer und Baudelaire-Fan, der in der Politik als Mann mit der eisernen Faust bekannt wurde, ist unter wildwestähnlichen Umständen und der Mitnahme beträchtlicher Rubelbeträge aus der Staatskasse am Montag morgen aus Tiflis nach Aserbaidschan geflohen. Er bemüht sich offenbar um Aufname in einem „Land außerhalb der ehemaligen Sowjetunion“. Am Nachmittag flüchtete er unbestätigten Berichten zufolge weiter nach Armenien.

Schneeverzuckert liegen sie da, die sanften Berghänge der georgischen Hauptstadt. Der Granatwerfer in den Hügeln — am Vorabend frisch installiert — hat das Feuer auf das Regierungsgebäude, in dem sich der Präsident verschanzt hält, eingestellt. Nur der Schnee erhellt die Nacht, als um halb vier ein Konvoi in rasendem Tempo aus dem umkämpften Regierungskomplex ausbricht. Wild ballernd sucht er sich seinen Weg nach Osten. Zwischen fünf und zehn Menschen bleiben auf der Strecke, als Georgiens Heiland Gamsachurdia nach 15tägiger Belagerung das Feld der Opposition überläßt. 200 Menschen hat diese absurde Schlacht das Leben gekostet, allein vierhundert wurden verletzt, heißt es nach Angaben des georgischen Gesundheitsministeriums. In dem Konvoi, der Tiflis in Richtung Aserbaidschan verläßt, sitzen die engsten Vertrauten des Präsidenten. Zwölf Fahrzeuge, Geländewagen der Marke Niva und der Präsidentenmercedes. Mit weißen Fahnen haben sie sie verziert, damit ihnen ja nichts passiert. Um im noch unbestimmten Exil nicht Hunger leiden zu müssen, sollen sie rasch noch 700 Millionen Rubel aus der Staatskasse eingesteckt haben. Das dürfte eine Wagenladung sein. Als Vorschuß sozusagen auf die Pensionsansprüche. Man sorgt für seine Nächsten — das ist kaukasisches Gesetz. In der Zwischenzeit machen sich die siegreichen Oppositionellen waffenklirrend an die Überbleibsel der Festgelage im Führungsbunker. Kistenweise schleppen sie Alkohol auf die Straße und feiern ihren Sieg. Man liegt sich in den Armen und toastet sich zu, wie man es hier liebt. Jetzt hat man einen wirklichen Grund. Nur die Mannschaft des Hubschraubers hat das Nachsehen, sie muß die Fluchtfahrzeuge verfolgen. Es wird geschossen, doch die Jagd verläuft ergebnislos. Der Präsident und sein Clan sind auf und davon, über die Berge sozusagen. Einige Stunden später melden die Azeris, Gamsachurdia habe die Grenze bei Kazach passiert, im Dreiländereck zwischen Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Doch in der Nachbarrepublik, heißt es wenig später, halte ihn nichts, er wolle weiter in ein Drittland ohne sowjetische Vorgeschichte. Das läßt zum erstenmal Zweifel aufkommen. Warum hat er dann den „Holzrubel“ mitgenommen? Um ihn in Zürich gegen Valuta zu tauschen?

Bei der Durchsuchung des Regierungspalastes stoßen die Oppositionellen unterdessen auf Nodar Georgadse — ein Getreuer des Präsidenten und Vorsitzender der georgischen Afghanistan-Veteranen sowie stellvertretender Verteidigungsminister. Ihm war eigentlich zugedacht, mit seiner Miliz auf den Straßen der Hauptstadt Ordnung zu schaffen. Dazu kam es aber nicht mehr. Statt dessen wurde er gefoltert. Mit ernsten Verletzungen wird er von seinen Befreiern ins Krankenhaus gebracht. Vierzig weitere Weggefährten hatten ebenfalls Foltermale davongetragen. Nach der ersten Pressekonferenz der Sieger wurden sie auf freien Fuß gesetzt.

Der Feingeist Gamsachurdia setzt währenddessen seine Flucht nach Baku fort. Zu Hause dementieren sich die Sieger gegenseitig. Tengis Kitowani, Kopf der einen Schlachttruppe und Kunstmaler, fordert die sofortige Auslieferung des Präsidenten. Sein Teilzeitverbündeter Jaba Joselani, Philologieprofessor und Anführer einer zweiten Rebelleneinheit, — außer dem Haß auf Gamsachurdia haben sie nichts gemein — behauptet demgegenüber, man habe den Präsidenten absichtlich entkommen lassen.

Die Dementis setzen sich fort. Armenien meldet, es hätte dem Präsidenten kein politisches Asyl angeboten, ihm lediglich die Flucht über armenisches Territorium einräumen wollen. Vergangene Woche hatten beide Streitparteien Georgiens den Nachbarstaat um Vermittlung gebeten. Ler-Petrosjan, armenischer Präsident, zeigte Einsehen mit Gamsachurdia. Beide kennen sich schließlich noch aus ihrer gemeinsamen Zeit als Oppositionelle gegen das Sowjetregime. Und er weiß um den Geisteszustand seines ehemaligen Mitstreiters. Die Übersetzungen Shakespeares und Baudelaires sind ihm über die Jahre zu Kopf gestiegen. So ernst nahm er Baudelaires Les fleurs du mal, die Blumen des Bösen, daß er — einmal im Amte — jener darin enthaltenen Spannung zwischen Satanismus und Idealität selbst nicht mehr entkommen konnte. Er teilte auch Baudelaires Haß auf den bürgerlichen Fortschrittsoptimismus, er glaubte an den Menschen als das „vollkommene Raubtier“. Das erklärt vielleicht auch, warum er sich während seiner einjährigen Regierungsverantwortung weigerte, irgendwelche wirtschaftlichen Reformen durchzuführen.

Wenn die Berichte stimmen, sollen wohlsituierte Geschäftsleute Georgiens die Oppositionellen mit finanziellen Mitteln ausgestattet haben. Gamsachurdias Auftritte dokumentierten das „Bei-sich-selbst- sein-des-Geistes“ auf eine tragische Weise, ein Oszillieren zwischen Trübsinn und Vergeistigung. Fast könnte man sagen, er lebte im Mittelalter,und das mag wiederum erklären, warum er gerade in der tiefen Provinz die fanatischsten Anhänger fand.

Zwischenzeitlich gehen Gerüchte um, der Delinquent sei nach einem Schußwechsel an der aserbaidschanischen Grenze festgenommen und nach Tiflis zurückgebracht worden. Sie bleiben unbestätigt. Die Moskauer Nachrichtenagentur 'Interfax‘ meldet am Nachmittag unter Berufung auf das Presseamt des aserbaidschanischen Präsidenten Mutalibow, Gamsachurdia sei weiter nach Armenien geflüchtet.

Aus Moskau meldet sich der nach Stalin berühmteste Sohn Georgiens zu Wort: Schewardnadse ist „bereit, das Schicksal seines Volkes zu teilen“. Er empfiehlt sich als Hoffnung Georgiens. Doch dort ist der letzte sowjetische Außenminister höchst umstritten. Die antirussische Propaganda Gamsachurdias hat aus ihm einen Volksfeind gemacht. Da nützt es nichts, wenn er appelliert: „Die wirklichen Patrioten müssen sich jetzt zusammentun.“ Georgien wird noch keinen Frieden finden. Den paradiesischen Augenblick zeitenthobener Euphorie gibt es nur bei Baudelaire. Klaus-Helge Donath, Moskau