Pilger, Plastikandenken und Fegefeuer

■ Europas Wallfahrtsorte: Zentren der Religion und des Kommerzes/ Heiliges Wasser auf Gottes Mühlen/ Tausende Pilger unterwerfen sich jedes Jahr den oftmals strengen Ritualen/ Neuerlicher Boom in den osteuropäischen Wallfahrtsorten

„Es gibt einige Stätten in der Welt, welche heilig gehalten werden um der Liebe willen, die sie weiht, um des Glaubens willen, welcher sie umgibt. Selbst der Name dieser Stätten ist ein Talisman an geistiger Schönheit.“

Diese Worte schrieb der schottische Dichter William Sharp — unter dem keltischen Frauennamen Fiona Mac Leod — Ende vergangenen Jahrhunderts. Mekka, das Zentrum des Islam, ist der bekannteste Wallfahrtsort der Welt. Europa hat viele Mekkas. Ihnen gemein sind die Marienstatuen und die überlieferten Wunder, aber auch der Kommerz: heiliges Wasser, Plastikandenken und religiöse Reliquien, die man gegen bare Münze in den weltlichen Alltag nach Hause tragen kann.

Seit Jahrhunderten pilgern Gläubige zu diesen Orten und unterwerfen sich den oftmals strengen Ritualen. Die Regierungen Osteuropas konnten das zwar jahrzehntelang behindern, jedoch niemals völlig verhindern. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus hat ein neuerlicher Boom in den osteuropäischen Wallfahrtsorten eingesetzt — gerade so, wie es die Jungfrau von Fatima vorausgesagt hat. Politik und Religion sind freilich nach wie vor vermischt. So hielten zum Beispiel zwei angebliche „Seher“ aus dem — vom Vatikan offiziell nicht anerkannten — Wallfahrtsort Medjugorje (Bosnien-Herzegowina) in Deutschland eine Ansprache vor 6.000 Exil-Kroaten, die Hunderte von faschistischen Ustascha-Fahnen schwenkten.

Tschenstochau — Lebensschützer-Zentrum

Für den Mönch, der jeden Tag Tausende von Touristen durch das Kloster führt, ist alles ein Wunder: daß 1655 eine Mannschaft aus Adligen, Mönchen und Soldaten, verschanzt im Gemäuer des Klosters, dem Ansturm der Schweden widerstand, obwohl die Schweden weit überlegen waren; daß sich das Ganze dann 1770 gegen ein Heer der Zarin Katharina II. wiederholte; daß das Bild der Schwarzen Madonna restauriert werden konnte, obwohl es 1430 von Hussiten demoliert worden war — und eben das Bild an sich, vor dem tagtäglich Tausende in die Knie gehen.

Aus ganz Polen kommen die Menschen ins Kloster von Tschenstochau (Czestochowa), seit sich die Wundertaten der Madonna herumgesprochen haben. Es ist wie in allen Wallfahrtsorten: Das Bild, das nur noch zu besonderen Anlässen enthüllt wird, soll heilen, Lahme gehend und Blinde sehend machen. Polens Kirche bemüht sich, dem Kult noch nachzuhelfen, indem sie in Abständen von ein paar Jahren eine geweihte Kopie des Bildes durch Polen fährt, worauf „der Besuch der Madonna im Dorf X“ anschließend wiederum mit entsprechenden Jahrestagen gefeiert wird. Die Pilgerfahrten nach Tschenstochau sind in ganz Europa berühmt. Allein in Polen beteiligen sich Hunderttausende jedes Jahr daran, vor allem Jugendliche.

Früher waren sie für viele die einzig legale Möglichkeit, ihrer politischen Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Marschiert wurde mit frommen Plakaten, auf denen die Bibelzitate dann in der gleichen rot-weißen Schrägschrift wie der charakteristische Schriftzug „Solidarność“ aufgemalt waren. Polens Geheimpolizei (SB) rächte sich, indem sie sich nach Kräften bemühte, die Pilgerzüge zu desorientieren, fehlzuleiten und Chaos zu verbreiten. Dabei — so weiß man seit der Öffnung eines Teils der Akten des Innenministeriums — schreckten die SB-Agenten auch nicht davor zurück, die Feldküchen der Pilger zu vergiften oder in den Zelten Juckpulver zu streuen.

Tschenstochaus Hauptattraktionen liegen unter der Erde: Tropfsteinhöhlen, die sich durch das ganze Kielcer und Tschenstochauer Jura ziehen. Politisch gesehen ist Tschenstochau Zentrum der polnischen Abtreibungsgegner. Im Kloster ist ein Ausstellungsraum ganz dem Kampf gegen die Abtreibung gewidmet.

Levoca — Zwei Tage im Juli

Auch nach Levoca, einer ostslowakischen Renaissancestadt mit 25.000 Einwohnern, können die Pilger erst seit der Wende in Osteuropa wieder ungehindert wallfahren. Eine Lokalzeitung schätzte, daß am 7. und 8. Juli 1990 über 400.000 Menschen aus der ganzen Welt nach Levoca kamen, um zu beten, zu beichten und im Wäldchen am Hügel zu übernachten.

Levoca ist der älteste Wallfahrtsort der Slowakei. Seine Geschichte geht bis auf das 13. Jahrhundert zurück. Seitdem ziehen Pilger an zwei Tagen im Juli zu der „Kirche des Besuchs der Maria“, die auf einem Hügel vor der Stadt liegt. Hier soll Maria die heilige Elisabeth, Mutter Johannes' des Täufers, besucht haben. 1948 versuchte die Prager Regierung, die Wallfahrt zu verhindern. Soldaten sperrten die Wege durch den Wald zur Kirche, und Geheimpolizisten fotografierten die Pilger, die sich davon auch in den Jahren danach von den Schikanen nicht abschrecken ließen.Denn: Wer den Weg zur Kirche zu Fuß zurücklegt, an der Messe teilnimmt und danach die Beichte ablegt, kann darauf hoffen, daß ihm alle Sünden vergeben werden.