Sehnsucht nach Verkleidung

■ Eine Reise zu den heiligen Wassern von Lourdes

Lourdes ist ein einziger Anachronismus.

Diese organisierten Pilgerzüge mit der Eisenbahn und dem ermäßigten Billet, diese elektrisch erleuchtete Kirche, die aussieht wie ein Vergnügungslokal auf dem Montmartre, der grauenhafte Schund, der da vorherrscht — nicht nur in den dummen Läden, sondern in den Kirchen selbst —, diese unfromm bestellten Altäre, Schreine, Ornamente, Decken und Beleuchtungskörper: Es ist die Industrie, die das nicht mehr leisten kann. In Carcassonne steht in der Kathedrale ein altes Taufbecken, das ist 700 Jahre alt, und man möchte davor knien, so fromm ist es. Aber der, der es gemetzt hat, hat geglaubt, er hat seinen Glauben in den Stein versenkt, er machte ein Geschäft, indem er ihn lieferte, gewiß — aber es war doch ein Taufbecken, und der Mann wußte sehr wohl, was er da unter den Händen hatte und was es galt. — Heute? „Und liefern wir Ihnen einen Posten Taufbecken Ia-Qualität zu besonders kulanten Bedingungen.“ Es ist aus. Die kirchliche Kunst kopiert sich selber, und wenn's gut geht, sind die Kopien wenigstens anständig. Die Versuche, zu modernisieren, mißlingen kläglich — zwischen Erfrischungsraum im Warenhaus und Bahnhofshalle ist da keine Dummheit ausgelassen. Gefühle kann man nicht herstellen.

Daran sind übrigens die Juden schuld. Huysmann: „Die Priester sollten daran denken, wie sehr heutzutage das jüdische Element unter den Verkäufern von frommen Andenken dominiert. Getauft oder nicht: es hat den Anschein, als ob diese Kaufleute neben der Sucht, Geld zu verdienen, nun auch das unfreiwillige Bedürfnis verspürten, den Messias noch einmal zu verraten: indem sie ihn in einer Gestalt verkaufen, die ihnen der Teufel eingeblasen hat.“ Da kann man nichts machen.

Solch ein Wunderglaube, dessen Form die absolute Herrschaft der Kirche zur Voraussetzung hat, ihre Herrschaft besonders über die Finanzmächte der Länder — und dann diese Zeit: es ist eine Dissonanz der Epochen, die hier aufeinanderstoßen. Es klingt nicht. Und Kunstwerke bringt so etwas schon gar nicht hervor.

Und weil alles auf der Welt ein greifbares Symbol findet, so leuchtet abends die Basilika, oben strahlt das Kreuz in der Luft auf dem fernen Berge — und heller als alles andere brennt sich eine Flammenzeile in den dunklen Nachthimmel: HOTEL ROYAL.

Unten klingt das Credo. Keine Zeit hat solche Sehnsucht nach Verkleidung wie die, die keine hat. Kurt Tucholsky (1927)