Heimliches Herzklopfen beim Mondschein

Ein apulischer Arbeiter berichtet über Wallfahrten und Prozessionen in seiner Jugendzeit: Wer die schweren Pappmaché-Heiligen fünf Stunden tragen konnte, war fortan ein Mann — und um Mitternacht gab es Zwiebeltaschen für alle  ■ Aus Bari Tommaso di Ciaula

Im Frühjahr ging man auf Pilgerfahrt. Vom eigenen Ort in den nächsten. Auf staubigen Straßen und in der klaren Luft dieser schönen Jahreszeit, die sich nun kraftvoll durchsetzte. Man begab sich zur Andacht ins nächste Dorf, um der Madonna zu danken oder um sie anzubeten. Mitten in der Nacht brach man auf: Alte, Junge, Krüppel, Hunde, Pferde, Kinder. Jeder hatte eine Kerze und einen Rosenkranz, um den ganzen Weg lang Gebete herunterzuleiern. Das alles war eine uralte Gewohnheit. Unsere Eltern haben es so gemacht, die Großeltern, die Großeltern der Großeltern.

Aber dieses Jahr war ich kein Kind mehr, ich war ein Jüngling geworden, der Flaum an meinem Kinn sproß schon unübersehbar. Ich hatte daher keine Lust mehr, mein Mädchen immer mit Herzklopfen in irgendwelchen Gärten oder im Kornfeld zu treffen, stets voller Angst, daß die Eltern plötzlich mit der Sense in der Hand auftauchen könnten. Ich hatte keine Lust mehr, auf Terrassen zu klettern, auf Heuböden, unter Gebüsche zu kriechen. Diese Nacht, in der die Wallfahrt stattfand, in der man zu Fuß bis zum nächsten Ort marschierte, sollte sie die meine werden! Am Treffpunkt für die lange Prozession war ein Getümmel von Leuten und Tieren. Die Nacht war tiefschwarz, auch der Mond schien nicht. Die Hunde bellten aufgeregt. Man konnte gut von der allgemeinen Konfusion profitieren, und ich zog mit meinem Mädchen los.

Auf dem Weg: viele Küsse und Zärtlichkeiten; meine Hände glitten unter ihren Rock, tasteten sich unter ihre Bluse, berührten ihre warmen Brüste. Um uns herum beteten die Leute mit erhobener Stimme und ließen die Kerzen flackern, das gab geheimnisvolle Schatten auf der Straße...

Eines dieser Wallfahrtsfeste heißt noch heute „Die Welt“; es ist bei uns die wichtigste religiöse Feierlichkeit des Jahres. Es beginnt am Karfreitag, da werden die schweren Statuen der Heiligen in einer Prozession umhergetragen — Tonnen von Pappmaché, von Gips, von Lumpen. Insgesamt gibt es dreizehn Statuen, so viele, wie es Mysterien gibt, dazu noch eine weitere Statue, die vierzehnte, darin befindet sich eine Urne mit dem „Heiligen Holz“, einem winzig kleinen Splitter des großen Holzkreuzes, an dem Jesus Christus starb. Als man das Kreuz abbaute, haben die großen Kirchen der Welt die Splitter untereinander aufgeteilt.

Die Statuen gehören nicht den Priestern oder der Kirche, sondern Privatleuten oder Gemeinschaften, und ihr Besitz vererbt sich vom Vater auf den Sohn. Die Statuen sind stets in den entsprechenden Häusern aufgestellt, nur einmal im Jahr dürfen sie heraus. Die Mitglieder der Gemeinschaften steuern alle etwas bei und bestreiten davon die Ausgaben. Eine Woche vor der Prozession werden die Statuen hergerichtet, abgestaubt, repariert, mit Lampen geschmückt.

Die Prozession dauert etwa fünf Stunden und endet um Mitternacht; sie zieht sich durch die wichtigsten Straßen des Ortes. Die Gemeinschaftsmitglieder müssen sich um alles kümmern; sie schmücken die Statuen und tragen sie abwechselnd während der Prozession auf den Schultern. Die Prozession bewegt sich langsam vorwärts, ab und zu wird angehalten, man muß verschnaufen, und dafür sind Eisenständer vorgesehen, die die Statuen in den Pausen halten. Die Männer, die die Statuen tragen, müssen etwa gleich groß sein, damit der Heilige einigermaßen waagerecht und im Gleichgewicht bleibt, denn sonst fällt er herunter, und alles geht zu Bruch. Zum Schluß, am Abend, feiert jede Gruppe das Ereignis und die überstandene Anstrengung mit einem prächtigen Festmahl, das man „Zwiebeltaschenessen“ nennt — Teigwaren mit Fisch, verschiedene Beilagen, dazu einfacher Wein.

Bei dieser Gelegenheit machen viele Jungen ihre ersten Schritte in die Welt der Erwachsenen. Wenn sie diese schweren Pappmaché-Heiligen herumtragen, heißt das ja, daß sie schon kräftige Muskeln haben, und die Mädchen an den Straßenrändern bewundern sie, machen anzügliche Bemerkungen über die Durchhaltekraft und haben so ihre Hintergedanken ...

Der Autor war 20 Jahre Fabrikarbeiter und begann Mitte der 70er Jahre mit dem Schreiben über die Arbeitswelt und den Untergang der ländlichen Bräuche. Seine viel prämierten Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Copyright: Wagenbach Verlag Berlin. Übersetzung von Werner Raith