PRESS-SCHLAG
: Der Vishi-Kult

■ Schach-Guru Viswanathan Anand, Sieger des Turniers von Reggio Emilia, bezaubert die Schachfans

Der Rauch über den Köpfen verzieht sich. Das Schachvolk jubelt: „Wir haben einen Weltmeister.“ Der aus dem Aserbeidschan angerollte Orkan Garri Kasparow hat den vielgehaßten Tolja Karpow vom Schachthron gewirbelt. Mehr als sechs Jahre ist es jetzt her, daß die Schachfans vor Freude über den damals 22jährigen Thronfolger die drohende Langeweile vergaßen, die der zornige junge Kasparow vollmundig verheißen hatte. „Ich werde bis ins nächste Jahrtausend Weltmeister bleiben.“ Und überhaupt sei neben Karpow kein anderer ernsthafter Konkurrent in Sicht.

Das hat sich in den zurückliegenden zwei Jahren merklich gewandelt. Gleich ein halbes Dutzend Fangemeinden hat sich über die Frage nach dem nächsten Weltmeister etabliert. Während Kasparow in der Beliebtheitsskala deutlich abgerutscht ist, stößt man zunächst auf Wassili Iwantschuk, den 22jährigen Ukrainer, der Kasparow nach knapp einem Jahrzehnt als Erster einen Turniersieg wegschnappen konnte. Ebenfalls Vertreter des jung-dynamischen Stils, hat auch der ein Jahr ältere Boris Gelfand aus Minsk seine Anhänger gefunden. Wer es exzentrisch mag, für den ist Gata Kamski (17) der Richtige, dessen ex-boxender Daddy Kasparow ganz nebenbei der versuchten Vergiftung seines Sohnes bezichtigt hat. Judit Polgar (15), die nach dem Tiel des ungarischen Meisters auch den eines Großmeisters eroberte, und Peter Leko, der stärkste Zwölfjährige aller Schachzeiten, vertreten die ungarische Holzspielzeug-Pädagogik.

Doch Peterlein weiß es am Besten: „Mein Lieblingsspieler ist der Vishi!“ So nennen nicht nur die Großmeisterkollegen den 22jährigen Tamilen aus Madras, weil Viswanathan Anand so schwer über europäische Zungen geht. Dunkelhäutig und in der fast obligatorischen Lederjacke am Brett, hat er das Zeug zum Publikumsliebling. Mit seinem zügigen, nicht immer dogmatischen Spiel bringt er seine Gegner regelmäßig aus dem Rhythmus. Die Kritiker sind denn auch voll des Lobes über sein natürliches Stellungsverständnis, seine rasanten Rechenkünste und den nötigen Schuß Pragmatik in seinem Spiel. Der Weltmeister der VorbereitungKasparow, der seine idealistische Suche nach dem immerbesten Zug bereits vom Zeitgeist überholt sieht, hat in Anand seinen Angstgegner gefunden. Außer gegen ihn hat er nur gegen den in den Vereinigten Staaten lebenden Boris Gulko ein Negativ- Score. Schon im niederländischen Tilburg verlor er eine Partie gegen Vishi, gewann dann aber trotzdem noch das Turnier. In Reggio Emilia hagelte es nun, kaum zwei Monate später, die zweite Niederlage, und das auch noch mit den vorteilsträchtigen weißen Steinen. Raubtierbändiger Vishi — er nennt Kasparow „The Beast“ — will seinen Erfolg zwar nicht erwartet haben, den Status des nicht ganz ernstzunehmenden Jungzockers hat er jedoch längst abgelegt.

Am Montag nachmittag ging es bei der Zehnerkonkurrenz in Norditalien um die Wurscht — oder besser um die Lorbeeren: Vishi ist Vegetarier. Von den drei Punktgleichen an der Spitze hatte Boris Gelfand die schwerste Aufgabe gegen den eineinhalb Punkte dahinter lauernden Vize-Weltmeister Anatoli Karpow zu bestehen. Kasparows Weiß-Partie gegen den Wahlfrankfurter Alexander Chalifman sollte nicht schwerer zu bewältigen sein als Anands Schwarz-Runde gegen den völlig von der Rolle agierenden Ukrainer Alexander Beljawski.

Früh fitschelte Karpow dem als einzigem ungeschlagenen Gelfand ein Bäuerlein vom Brett, und dieser mußte fortan um ein Remis kämpfen. Beim Weltmeister sah man einen wuchtigen Königsangriff, während Anand eine remis-verdächtige Stellung vor sich hatte. Aber der andere Alexander verteidigte sich geschickter. Beljawski brachte sich um Haus und Hof, während Chalifman den halben Punkt rettete. Als Karpow nach neunzig Zügen Gelfand ebenfalls zum Remis erlöste, war es dann amtlich: Anand hatte das Turnier mit sechs Punkten vor Kasparow und Gelfand (je 5,5 Punkte) gewonnen.

Der arme Garri trifft auch im März im spanischen Linares und im April in Dortmund auf den Inder. Aber bedarf es da wirklich noch weiterer Raubtierdressuren, bis sich der Vishi-Kult unter den Schachfans durchgesetzt hat? Stefan Löffler