DER KUNSTKRITIKER
: Gorbatschows Happening

■ Oder: Requiem für die Sowjetunion

Es war sehr schön, in der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken zu leben. Man wachte morgens auf, und aus allen Fenstern ertönte die feierliche Nationalhymne: „Die unverbrüchliche Union der freien Republiken.“ Die Sowjetmenschen schalteten ihren Drahtfunk überhaupt nicht ab: Von sechs Uhr bis Mitternacht wurden die politischen oder erzieherischen Programme und Volksmusik gesendet, zum Schluß kam die Hymne, und dann konnte man schlafen gehen, der Funk schwieg von allein bis sechs Uhr. Auch der neue Tag wurde wieder mit der Hymne eingeleitet, man wurde geweckt, man wachte voll Stolz und Freude auf, weil das Leben auch in Wirklichkeit genauso großartig und schön war wie in Romanen des Sozialistischen Realismus, im Theater von Stanislawski, das Stalin so gern hatte, oder wie in optimistischen Filmen der Dreißiger.

Das ganze Land war ein Gesamtkunstwerk des Sozialistischen Realismus, und alle sogenannten „echten Sowjetmenschen“ nahmen an der Aufführung teil. Während des Früstücks lasen sie in der Zeitung 'Wahrheit‘ über die neuen Erfolge im Aufbau des Kommunismus, dann eilten sie in die Betriebe, jeder zu seinem Arbeitsplatz: der Arbeiter zu seiner Werkzeugmaschine, der Ingenieur zu seinem Reißbrett, der Schriftsteller, auch „Ingenieur der menschlichen Seelen“ (Stalin), zu seinem Arbeitstisch. Unterwegs sahen sie schöne Losungen und Plakate: „Die Kommunistische Partei ist der Verstand, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche“, „Es lebe die KPdSU“, „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“.

Glückliche Schrauben

Letztere Losung war ein Zitat von Lenin und hing an einem Kraftwerk gegenüber dem Kreml. Dort im Kreml fand eine Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU statt. Die weisen alten Männer saßen da, in ihre Gedanken vertieft, Ingenieure der riesengroßen Maschine, deren Schrauben alle Sowjetmenschen waren. Es waren selbstverständlich glücklichste Schrauben, stolz, Aufbauer des Kommunismus zu sein. Sie arbeiteten mit Enthusiasmus, jeder hatte zwar eine kleine, aber sehr wichtige Rolle. Auch die Hauptdarsteller spielten ihre Rollen gut: der strenge, aber gerechte Stalin, dann Chruschtschow, so russisch, und endlich Breschnew, der selber gut lebte und auch die anderen gut leben ließ. Alle waren glücklich, und der Sieg des Kommunismus rückte immer näher heran.

Warum zerstörte Gorbatschow dieses Idyll? War er einfach ein schlechter Akteur, konnte er seine Rolle nicht spielen? Oder merkte der Generalsekretär der Partei, daß hinter der schönen Inszenierung Stalinsche Konzentrationslager und Allmacht der Staatssicherheit, GULAG und KGB steckten? Aber das hätte ihn eigentlich nicht stören sollen, war es ja nur eine Art Gerüst für Bühnenbilder, tragende Stangen für die Scheinwerfer oder verrostete Eisenkonstruktionen hinter dem schönen Prospekt. Das hatte mit Theaterkunst nichts zu tun. Kommt ein echter Kenner ins Theater, blickt er ja nicht hinter die Kulissen. Mit dem Beispiel solch künstlerischen Spürsinns ging noch der Vater des Sozialistischen Realismus, Maxim Gorki, voran, als er an der Spitze einer Mannschaft der sowjetischen Schriftsteller ein Lager besuchte. Dort wurde, wie Solschenizyn in seinem Archipel GULAG schrieb, auf den Gebeinen der Häftlinge ein Riesenkanal gebaut. Aber Gorki widmete den beim Aufbau des Kommunismus entstehenden Produktionskosten keine Aufmerksamkeit und schrieb von der „Umerziehung des Verbrechers“, die er „Umschmieden“ nannte.

Michail, der Avantgardist

Als Spitzenfunktionär der Partei, der eine erfolgreiche dreißigjährige Karriere hinter sich hatte, mußte auch Gorbatschow dem Beispiel Gorkis folgen. Für die Perestroika gibt es dann nur eine Erklärung: Gorbatschow fand nicht den GULAG, sondern die ganze Sowjetunion künstlerisch unvollkommen, einfach nicht schön. Jetzt ist schon klar, daß er ein Avantgardist war, der mit dem „Gesamtkunstwerk Sowjetunion“ total unzufrieden war. Er wollte dieses Kunstwerk nicht nur verändern wie Chruschtschow und nicht vervollkommnen wie Breschnew. Er verbrannte es in einem Happening. Happening beabsichtigt vor allem Schockwirkung beim Publikum. Diese Definition der marxistischen Ästhetik trifft auch auf den Fall Gorbatschow zu. Wenn Gorki sagte, die Russen seien das beste Material für einen Künstler, meinte er dabei selbstverständlich nur realistische Kunst. Was Gorbatschow in seinen Performances immer störte, war der sogenannte „Stolz der echten Sowjetmenschen“. Dieser Stolz war von Kindheit an erzogen. Schon jeder Schulanfänger wurde Mitglied eines Sternchens der „Oktoberkinder“. Alle Mitglieder der „Pionierfreundschaft“ trugen rote Halstücher, deren drei Spitzen die sowjetische Dreieinigkeit symbolisierten: Pioniere — Komsomolzen — Kommunisten. Alle Kinder spielten also, obwohl nur als Statisten, in der Inszenierung des Stücks von Lenin und Stalin unter dem Titel „Die Sowjetunion“. Die Inszenierung stimmte in jedem Detail, von unten bis oben, vom einfachen Sowjetmenschen bis zum Generalsekretär des ZK der KPdSU. Es war ein totaler Erfolg: riesengroße Demonstrationen mit roten Fahnen klatschten Beifall.

Deswegen waren die echten Sowjetmenschen schon damals unzufrieden, als Gorbatschow gleich am Anfang seiner Perestroika ein paar Sätze im alten Stalinschen Text ändern wollte. Er sprach eine andere Sprache, und diese neue Sprache schien ihnen vollkommen zusammenhanglos — wie im Theater des Absurden. Die alten totalitaristischen Sprüche der kommunistischen Ideologie nahm er nur als Zitate — etwa wie postmoderne Künstler die Klischees der verschiedenen Stile der Vergangenheit benutzen. Wie es sich jetzt endlich herausstellte, meinte Gorbatschow damit gar nichts. Er sprach und sprach und sprach — und das machte ihm offensichtlich viel Spaß —, aber die enttäuschten Zuhörer suchten umsonst nach der „ideologischen Konsequenz“ und der „leitenden Idee“. Deswegen blieb Gorbatschow immer öfter allein. Seine potentiellen Anhänger wandten sich von ihm ab. Die meisten sowjetischen Dissidenten glaubten Gorbatschow von Anfang an nicht und fingen sogar bald an, ihn zu hassen. Ihr Antikommunismus war viel autoritärer und konservativer als Gorbatschows Bekenntnis zum Sozialismus. Es war für ihn sehr schwer, mit dem herrschenden Geschmack zu kämpfen und seine eigene Regie durchzusetzen. Dieser Kampf war von Anfang an hoffnungslos, und die Tradition endlich überwältigte ihn. Boris Jelzin behandelte Gorbatschow im alten autoritären Stil und schmiß ihn, den letzten Präsidenten der Sowjetunion, einfach raus.

Es bleiben Kulissen

Und nun steht er ganz allein da, von allen Genossen verlassen — ein Bild des verkannten Genies. Die wenigen echten Sowjetmenschen, die es noch gibt, sind jetzt vollkommen irritiert: Noch gestern umgaben sie Partei und KGB, junge Pioniere und Bestarbeiter, schöne Losungen und große Literatur und Kunst des Sozialistischen Realismus. Ganz plötzlich ist das alles verschwunden, wie gemalte Bühnenbilder, als hätte der Beleuchter die Scheinwerfer abgeschaltet. Dieselben Schauspieler — zum Beispiel alte Parteifunktionäre wie Jelzin — spielen jetzt andere Rollen. Nicht genug: Die rebellischen Akteure verjagten ihren Regisseur (was übrigens für avantgardistisches Theater nicht neu ist), und sogar das Theatergebäude ist weg. Man erwachte in einer neuen Welt. Lächerlich sieht jetzt in Gorbatschows Happening die verbrannte Szenerie der ehemaligen UdSSR aus. Die Vorstellung ist zu Ende, aber es gibt keinen „lang anhaltenden und nicht enden wollenden Beifall“, der die Reden von Stalin oder Breschnew immer unterbrach. Rechnete auch Gorbatschow damit? Oder beabsichtigte er von Anfang an, was nur der Avantgardist erwarten kann: die Schockwirkung? Boris Schumatsky

Happening: Darbietung zusammenhangloser Vorgänge und Erscheinungen der Alltagswirklichkeit... Beabsichtigt vor allem Schockwirkung beim Publikum.

Meyers Universallexikon, Leipzig 1981

Der Autor lebt in Moskau