Rußland dreht Letten den Ölhahn zu

Energie bekommt die baltische Republik nur noch zu Weltmarktpreisen gegen harte Devisen geliefert  ■ Aus Riga Ojars J. Rozitis

Heizung an, Fenster auf — noch immer ist dies in Lettland eine weitverbreitete Methode, die Raumtemperatur in der kalten Jahreszeit zu regeln. Viele Wohnungen, Geschäfts- und Büroräume werden mit Fernwärme versorgt, doch die Heizkörper sind nicht einmal mit Absperrventilen ausgestattet, von Thermostaten ganz zu schweigen. Die Crux ist jedoch, daß in diesem Winter Energie in Lettland Mangelware ist.

Der Baltenstaat, der im Sommer seine politische Unabhängigkeit wiedererlangt hat, verfügt bis auf kleinere Torfvorkommen und Wasserkraft über keine eigenen Energiequellen. 95 Prozent des Energiebedarfs wurden bislang aus den ehemaligen Unionsrepubliken importiert; bei Erdölprodukten waren es sogar nahezu 100 Prozent, bei Strom rund 50 Prozent. Bereits im Oktober hatte Rußland die in früheren zwischenstaatlichen Verträgen ausgehandelten Zulieferungen an Benzin praktisch eingestellt. Die russische Erdölförderung war um etwa eine Million Tonnen monatlich zurückgegangen; Regierungschef Boris Jelzin ordnete per Dekret an, daß der Erdölexport nur noch genehmigt wird, wenn dafür im Rahmen von Barter- Geschäften von Rußland benötigte Waren importiert werden. Die Baltenrepublik ist aber auf die russischen Benzinimporte angewiesen, da sie über keine eigene Raffinerie verfügt.

Die seit Oktober laufenden Verhandlungen über ein wirtschaftliches Rahmenabkommen zwischen Lettland und Rußland treten auf der Stelle. Die russische Seite besteht bei den Geschäften auf Weltmarktpreisen und einer Bezahlung in harten Devisen. Devisen in nennenswertem Umfang besitzen jedoch weder lettische Unternehmen, noch die Rigaer Staatskasse. Auch ein finnisches Angebot, Benzin für zwei bis drei Finnmark pro Liter zu liefern, hat sich deshalb vorerst als unrealistisch erwiesen; nach dem gültigen Wechselkurs würde dies auf einen Literpreis von etwa 14 Rubel hinauslaufen.

Derzeit liegt der vom lettischen Energieministerium festgesetzte Preis, zu dem die Staatsfirma Latvijas Nafta an ihren Tankstellen hochoktanigen Kraftstoff verkauft, bei rund 2,20 Rubel pro Liter. Doch Benzin ist kaum zu bekommen. Das Unternehmen muß mit seinen äußerst spärlichen Vorräten streng haushalten, um wenigstens die Versorgung des öffentlichen Fuhrparks sicherzustellen.

Auf dem Land hat der Benzinmangel bereits zu drastischen Einschränkungen geführt. Im Rayon Preili etwa mußten Anfang November landwirtschaftliche Arbeiten, der Gütertransport und die Bautätigkeit völlig eingestellt werden, wei es kein Benzin gab. Der vorhandene Benzinvorrat wurde für Rettungsfahrzeuge, Lebensmitteltransporte und die Post reserviert. Vielerorts mußten schon die Busfahrpläne zusammengestrichen werden.

Die AutofahrerInnen sind auf Zapfstellen angewiesen, an denen Benzin zu sogenannten kommerziellen Preisen abgegeben wird. Zur Herkunft des Kraftstoffs werden nur vage Angaben gemacht; um so deutlicher fallen die Literpreise aus: mittlerweile fünf Rubel, mit steigender Tendenz. Eine Tankstelle in Riga gibt sich erst gar nicht mit dem inflationären Sowjetgeld ab und verkauft den Sprit nur zu einem Literpreis von 0,85 US-Dollar — laut gültigem Wechselkurs sind dies stolze 65,45 Rubel.

Die allgemeine Benzinnot in Lettland wird durch weitere Probleme verschärft. In Rußland eingekaufte Lieferungen können nicht antransportiert werden, weil die lettische Eisenbahn seit ihrem Austritt aus dem Unionssystem über keine eigenen Tankwaggons verfügt. Als es Ende Oktober endlich gelungen war, einen Tankzug zusammenzustellen, trafen von den 66 Waggons nur 37 bei der Raffinierie in Ufa ein. Der stellvertretende lettische Energieminister stellte daraufhin Überlegungen an, die Benzintransporte künftig von Wachmannschaften begleiten zu lassen.

Aber auch in anderen Energiebereichen zeichnen sich Engpässe ab. So sind die Bergbaugesellschaften im sibirischen Workuta nur bereit, ihre Kohle im Tausch gegen 25 Minibusse zu liefern. Den Gruben in Kemerowo hingegen haben die örtlichen Behörden verboten, ihre Produktion ins Baltikum zu verkaufen. Ein Geschäft ganz besonderer Art wiederum hat der Stadtrat von Tjumen Ende November vorgeschlagen: Erdöl gegen das in Lettland inhaftierte Mitglied der berüchtigten „Schwarzen Barette“, Sergej Parfjonow. Das Parlament in Riga lehnte das selbstverständlich ab.

Anfängliche Befürchtungen, die baltischen Nachbarstaaten Estland und Litauen könnten ihre Stromlieferungen nach Lettland reduzieren, haben sich bislang nicht bewahrheitet. Allerdings sind diese Importe aus ökologischer Sicht alles andere als unbedenklich: In Estland wird Ölschiefer unter erheblicher Umweltbelastung verstromt; Litauen erzeugt seine Elektrizität zum großen Teil im Kernkraftwerk Ignalina erzeugen, das mit Reaktoren des Tschernobyl- Typs bestückt ist.

Der Direktor der lettischen Vereinigung für Energiegewinnung in Lettland plädierte kürzlich dafür, ein eigenes Atomkraftwerk zu bauen. Der Betrieb von thermischen Kraftwerken unterliege dem unkalkulierbaren russischen Preisdiktat für Brennstoffe, so seine Begründung, der Bau von Wasserkraftwerken hingegen sei bei der Bevölkerung nicht durchzusetzen. Der erfolgreiche Massenprotest gegen den von Moskau geplanten Bau eines riesigen Staudamms auf der Daugawa 1987 hatte mit zum politischen Aufbruch in Lettland beigetragen. Am Widerstand der Bevölkerkung 1988 auch das Vorhaben, in Nähe der Hafenstadt Liepaja ein gigantisches Kernkraftwerk zu errichten.

In den Schubladen der lettischen Energieerzeuger liegen Pläne für den Fall bereit, daß es doch noch zu Kürzungen von Stromimporten kommen sollte. Diese sehen weitreichende Verbrauchseinschränkungen im privaten und gewerblichen Bereich vor — bis hin zur kompletten Abkoppelung unwichtiger Betriebe vom Netz.

Mit leeren Geschäften, der Freigabe von Preisen und schrumpfenden Realeinkommen steht der Bevölkerung ohnehin ein harter Winter ins Haus. Die Krise im Energiebereich verschärft die Notsituation erheblich. Selbst der einzige Lichtblick könnte sich als trügerisch erweisen: Selbst jene 1,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die in unterirdischen Kavernen unweit von Riga lagern, reichen nicht aus, um den Bedarf bis April zu decken. Die russische Regierung hat zwar gestattet, das Gas zu nutzen, aber bislang offengelassen, was dafür bezahlt werden muß.