Staatsmacht und Verantwortung des einzelnen

Im „Mauerprozeß“ forderte der Staatsanwalt Bewährungsstrafen und betont die Notwendigkeit der Generalprävention: „An die rechtliche Verantwortung des einzelnen sind hohe Anforderungen zu stellen“  ■ Aus Berlin Götz Aly

Eher stockend und zurückhaltend plädierte Oberstaatsanwalt Grossmann am späten Montag nachmittag im ersten Berliner „Mauerschützenprozeß“. Anders als im bisherigen Prozeß, in dessen Verlauf die Verteidigung immer wieder den für die Täter entlastenden historischen Kontext bemüht hatte, sprach Grossmann einleitend von der inhumanen Realität der Mauer: Er erinnerte an die 80jährige Olga Segler, die am 25.September 1961 in der Bernauer Straße in ein Sprungtuch der Westberliner Feuerwehr sprang — und starb; an Peter Fechter, der im August 1962 eine dreiviertel Stunde lang zwischen den „Sperrelementen“ verblutete.

Rasselnd unterbrach Verteidiger Eisenberg (Jahrgang 1955) das Plädoyer, trompetete von „Stimmungsmache“, besang zum soundsovielten Mal die Befangenheit des Gerichts, wo es allenfalls um Zwischentöne gehen konnte, um Allgemeinbildung, um Daten und Fakten, die der aufbrausende Advokat noch nicht einmal nachbuchstabieren konnte. Es ging darum, wie der Oberstaatsanwalt dem Verteidiger und ehemaligen „Tunix“-Aktivisten bedeutete, „gerade in Ihren Kreisen klarzumachen, daß die Mauer nicht einfach eine besondere Architektur war“. In Berlin bedeutete sie für die einen Trennung und Tod, unendliche Tragödien, den anderen war sie ein groteskes, graffitiverziertes Bauwerk, zwar kein antifaschistischer, sondern eher postmoderner Schutzwall einer ökologischen Nische, eines hoch subventionierten politischen Biotops am Rande der ungeliebten Bundesrepublik. Und eben diesen heiklen Punkt der Befangenheit einer bestimmten Berliner Szene hatte Grossmann gestreift. Er sprach weiter über Chris Gueffroy, den letzten von mehr als 200 Toten, würdigte das Ergebnis von 20 Tagen Beweisaufnahme, würdigte die einzelnen angeklagten Grenzsoldaten. Fair und im Zweifel für die Angeklagten, aber nicht ohne juristischen Eigensinn, beantragte der Staatsanwalt nach vierstündigem Plädoyer schließlich: je 24 Monate Gefängnis auf Bewährung für die Angeklagten Andreas Kühnpast, Peter Schmett und Ingo Heinrich und 20 Monate auf Bewährung für den Angeklagten Mike Schmidt. Sie seien der Beteiligung beziehungsweise der Anstiftung zum Totschlag schuldig. Aber dennoch handele es sich um „vier junge Menschen, von denen keiner ins Gefängnis gesteckt gehört“. Als strafmildernd führte Grossmann alle erdenklichen Gründe an: Trotz der eigentlichen Tatausführung treffe die angeklagten früheren Grenzsoldaten die geringste Schuld, sie seien in der „Kette der Verantwortlichen ganz unten anzusiedeln“, hätten nicht „einfach blindwütig losgeballert“. Er hielt ihnen die Anspannung zugute, ihre jahrelange Indoktrination und die Unmöglichkeit, die „volle Tragweite ihres Handelns zu übersehen“. Grossmann folgte der Aussage eines (Stasi-)Offiziers, der erklärt hatte, daß „die Grenzsoldaten nicht zu eiskalten Killern ausgebildet wurden“, und ordnete die Aussagen des überlebenden Mitflüchtlings Christan Gaudian als nur bedingt glaubwürdig ein. Der Staatsanwalt wies dessen späte und widersprüchliche Bekundung zurück, die tödlichen Schüsse seien erst gefallen, als der Fluchversuch schon abgebrochen gewesen war, und hielt es — für die Richter wohl eher irritierend — für nicht erwiesen, daß der tödliche Schuß „mit zweifelsfreier Sicherheit“ von einem bestimmten Soldaten abgegeben worden sei. So kam ein relativ einheitlicher Strafantrag zustande, der der Realität des letzten nächtlichen Mauerdramas am ehesten gerecht werden könnte, auch dann, wenn die Verteidiger heute und am kommenden Montag in ihren Plädoyers den individuellen Schuldnachweis einfordern und ihre Anträge auf Freispruch unter anderem so begründen werden. Strafverschärfend sei nur ein einziger Gesichtspunkt im Urteil zu berücksichtigen, nämlich der der Generalprävention. „Das klingt paradox. Und Sie, meine Damen und Herren“, so fuhr der Staatsanwalt fort, „werden fragen, was denn hier nach dem Ende von Mauer und DDR noch generalpräventiv verhindert werden soll.“

Grossmann bezog den generalpräventiven Zweck dieses Urteils nicht auf die untergegangene DDR, sondern auf die Staatsdiener, Waffenträger und Funktionäre der neuen Bundesrepublik: „Es gilt mit einer Strafe in diesem Verfahren darzutun, daß an die rechtliche Verantwortung eines einzelnen hohe Anforderungen gestellt werden. Auch dann, wenn die Angeklagten am Ende einer langen Kette stehen. Das gilt gerade dann, wenn die allgemeinen Grundsätze der Menschlichkeit berührt werden.“ Als einzelner dürfe man sich auch angesichts von staatlichem Unrecht nicht zum „seelenlosen“ Vollstrecker oder zum „Rädchen im Getriebe“ herabwürdigen lassen. — Auch wenn es nicht um die „Banalität des Bösen“, sondern eher um die „Banalität deutscher Normalos“ geht, orientierte sich der Staatsanwalt deutlich an Hannah Arendt: Schuld ist und bleibt individuell.