Von 95 auf 96 auf 97 auf 98 Prozent

Wahlfälscher Berghofer und Moke vor Gericht/ Prozeß wegen Fälschung der DDR-Kommunalwahlen begann in Dresden/ Verteidiger Schily: „Das waren gar keine Wahlen“/ Egon Krenz und Hans Modrow als Zeugen erwartet  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Vor dem 3. Strafsenat des Bezirksgerichts Dresden begann gestern der auf vorerst zwölf Verhandlungstage festgesetzte Prozeß gegen den ehemaligen 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Dresden Werner Moke und den ehemaligen Bürgermeister Berghofer. Den beiden SED-Spitzenfunktionären wird vorgeworfen, das Ergebnis der Wahlen zu den örtlichen „Volksvertretungen“ am 7.Mai 1989 gefälscht zu haben. Der Prozeß hatte bereits im Vorfeld für Schlagzeilen gesorgt, und der aus Nordrhein-Westfalen stammende Richter Gert Halfar verwahrte sich auch in seinem Eröffnungsstatement gegen Erwartungen eines politischen „Pilotverfahrens“. Er räumte ein, daß das Ergebnis des Prozesses, auf dem „spezielle Rechtsfragen erstmals vor Gericht“ verhandelt werden, wohl dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden müsse.

In der neunseitigen Anklageschrift von Staatsanwalt Andreas Günthel offenbarte sich noch einmal die Absurdität jener als „Wahlen“ etikettierten und als Zettelfalten inszenierten Ergebenheitserklärung gegenüber dem SED-Machtmonopol. Angefangen bei der im April von Berghofer gegenüber Moke gegebenen Prognose des Wahlausgangs, wonach eine Wahlbeteiligung von 91 Prozent und zwölf Prozent Gegenstimmen zu erwarten seien, bis hin zur Vollzugsmeldung einer Wahlbeteiligung von 98 Prozent und Gegenstimmen von 2,51 Prozent spulte sich eine in 40 Jahren Wahlbetrug perfektionierte Kommandokette ab. Am 28.April, so die Anklage, habe Moke an Berghofer erstmals die Weisung gegeben, das Wahlergebnis „zu verbessern“. Berghofer „verbesserte“ auf 95 Prozent. Moke wiederum wies mündlich weitere Verbesserungen an, neuer Stand am 5.Mai waren 96 Prozent. Am 5.Mai abends trafen sich die fünf Stadtbezirksbürgermeister und SED-Stadtbezirkssekretäre bei Moke und Berghofer. Die „Linie“ hieß: entsprechend der „Voraussage“ abrechnen. Weitere „nach Stadtbezirken untersetzte Varianten“ schaukelten das Wahlergebnis bis zum Vorabend des Urnenganges auf 97 Prozent. Dann rief, und sie konnte in der Anklage noch nicht näher bezeichnet werden, „die Zentrale“ an. Sie „verbesserte“ das Ergebnis verbindlich auf 98 Prozent. So rechnte dann auch die Stadt ab.

Beide Angeklagten werden beschuldigt, die Stadtbezirksbürgermeister zur Fälschung eines Wahlergebnisses bestimmt und selbst Ergebnisse gefälscht zu haben.

Otto Schily, der prominente Verteidiger Berghofers, kritisierte zwar, daß Ergebnisse der Ermittlung bereits in Form eines Anklagesatzes gefaßt werden. Dem Antrag des Moke- Verteidigers Burgschulte, das Verfahren einzustellen, mochte er allerdings nicht folgen. Burgschulte führte ins Feld, daß nicht von schädlichen Auswirkungen einer Wahlmanipulation gesprochen werden könne, wenn das Ergebnis der Wahl ohnehin feststand. Auch ohne Prozentpoker wäre die SED allein durch die Wahlprozedur als Sieger hervorgegangen. Schily will offenbar diesen Prozeß. Er ist sich sicher, wie er der Presse in der Verhandlungspause erklärte, daß das Gericht seiner Argumentation folgen werde. Als die „Kernfrage des Prozesses“ bezeichnete er, daß Wahlen in der DDR Scheinwahlen unter einem totalitären Regime waren und deshalb „kein schützenswertes Gut“ seien. Nachdem der Westen jahrelang freie Wahlen in der DDR gefordert hatte, könne nun nicht so getan werden, als ob es doch Wahlen gegeben habe, sagte der SPD-Politiker.

So bestätigte Berghofer auch die in der Anklage vorgetragenen Fakten. Es fehle aber das „parteipolitische“ Umfeld, das Handlungsalternativen verbot. Berghofer fühle sich als „Versuchskaninchen“ beim Umgang mit der DDR-Geschichte. An dieser Geschichte hatte er, wie er erklärte, als „überzeugter Kommunist“ mitgeschrieben. Begonnen hatte seine politische Laufbahn bereits, als er sechsjährig „begeistert“ in die Pionierorganisation eintrat. Später als Funktionär der Freien Deutschen Jugend und SED-Funktionär bewegte er sich zwischen den Polen stalinistischer Parteidisziplin und, wie er es sagte, „dem Bedürfnis, vor Ort zu arbeiten“. 1986 wurde er als OB in Dresden eingesetzt. Warum gerade er, entzieht sich seiner Kenntnis. Solche Wahlen wurden in der SED am grünen Tisch entschieden. Im Herbst 1989 öffnete er sich als erster SED-Funktionär dem friedlichen Dialog mit der Straße. Aus dieser Zeit rührt sein Kosename „Bergatschow“. Heute ist Berghofer als selbständiger Unternehmensberater tätig.

Richter Halfter machte es sich nicht leicht, die Handlungen der beiden Angeklagten aus dem SED-eigenen Filz von politischem Eifer, Kadavergehorsam und Perversität heraus zu begreifen. Minutiös ließ er sich erklären, wie in Dresden der von der „Zentrale“ erwartete Wahlsieg herbeigebastelt wurde und welche Handlungsspielräume dabei tatsächlich offenstanden. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang eine Aussage von Hans Modrow werden, der neben den ehemaligen Politbürokraten Krenz und Dohlus als Zeuge erwartet wird. Am 6.Mai, 16 Uhr sollen der damalige 1. SED-Bezirkssekretär, der Ratsvorsitzende Witteck, Moke und Berghofer über den Wahlausgang beraten haben. Dort will Berghofer gegen den „Schwachsinn“ protestiert und die letzte Hoffnung mitgenommen haben, daß Modrow die Manipulation verhindert. Jedoch habe ihn nach der Wende „ein Blick auf die damaligen MfS-Befehle“ belehrt, wie trügerisch diese Hoffnung war.