Mütterbetreuung im Ostteil zersplittert

■ Brunhild Dathe, Gesundheitsstadträtin, zur steigenden Säuglingssterblichkeit im Ostteil

Nachdem die Säuglingssterblichkeit in Ost-Berlin immer niedriger war als in West-Berlin (1987 starben in Ost- Berlin 8,4 von 1.000 Lebendgeborenen im ersten Lebensjahr, in West-Berlin 11,4), scheint sich nach Angaben des Statistischen Landesamtes 1991 eine neue Tendenz abzuzeichnen. Für das erste Halbjahr 1991 meldete West-Berlin 69 und Ost-Berlin 87 verstorbene Säuglinge. Die taz sprach darüber mit Brunhild Dathe, Gesundheitsstadträtin in Hohenschönhausen.

taz: Zeichnet sich in Ost-Berlin eine Trendwende ab?

Brunhild Dathe: Quantitativ läßt sich mit der bisherigen Zahlenlage wenig aussagen. In einigen Bezirken scheint die Säuglingssterblichkeit allerdings kräftig angestiegen zu sein; leider auch in Hohenschönhausen. Qualitativ läßt sich eine Menge dazu sagen.

Und das wäre?

Das Versorgungssystem in der DDR war ein ganz anderes. Beispielsweise hat es Stadtbezirkskommissionen gegeben, bestehend aus Kinderarzt, Fürsorgerin und Entbindungskliniken sowie dem zuständigen Pathologen. Zu jedem verstorbenen Säugling wurde eine Fallkonferenz durchgeführt. Dort wurden alle Fakten zusammengetragen, um zu entscheiden, ob dieser Todesfall vermeidbar gewesen wäre.

Was heißt vermeidbar?

Todesfälle, die aufgrund von schlechter Versorgungslage zustande gekommen sind, wären zum Beispiel vermeidbar gewesen.

Was hat sich denn bei der Versorgung von Müttern geändert?

Es gab eine sehr ausgebaute Mütterfürsorge mit regelmäßigen Untersuchungen vor und nach der Geburt. Für die ersten vier Untersuchungen der Neugeborenen haben die Mütter jeweils 25 Mark bekommen. Die Pflichtuntersuchungen dauerten bis zum dritten Lebensjahr an. Außerdem haben die Fürsorgerinnen Hausbesuche gemacht, die nicht abgelehnt werden durften.

Sie glauben, daß wegen des veränderten Gesundheitssystems die Säuglingssterblichkeit steigt?

Ich kann es mir vorstellen. Das System ist völlig zersplittert. In der DDR lagen sowohl die Vorsorgeuntersuchungen als auch die Behandlung von Säuglingen wie auch die Mütterberatung in einer Hand einer staatlichen Behörde. Jetzt macht der öffentliche Gesundheitsdienst die Beratung, die niedergelassenen Ärzte die Behandlung. Und die Konkurrenz der Kinderärzte untereinander und mit den Gesundheitsämtern ist enorm. Es wird mit harten Bandagen gekämpft.

Wie organisieren sie sich jetzt?

Es gibt nur noch freiwillige Angebote. Statt der Mütter- und Säuglingsfürsorge in den Polikliniken haben wir Kinder- und Jugendgesundheitsdienste und die Schwangerenberatung in den Gesundheitsämtern.

Hätten Sie denn das staatlich verordnete Fürsorgesystem der DDR für erhaltenswert gehalten?

Nein, aber die Zersplitterung ist zunächst einmal eine Verschlechterung. Wir müssen uns umstellen auf Angebote, die gerne angenommen werden. Wir versuchen die Säuglingskonferenz auf freiwilliger Ebene weiterzuführen. Das ist aber schwierig, weil es früher eine eigene Sachbearbeiterin für Säuglingssterblichkeit im Bezirk gab, um Ursachenforschung zu betreiben.

Wo liegen die Ursachen? Die meisten Säuglinge sterben in den ersten sieben Lebenstagen.

Einmal haben wir da die Mißbildungen, dann gibt es Schwierigkeiten bei der Entbindung. Probleme, die innerhalb der Kliniken auftreten können, wie Versorgungsmängel an medizinischer Ausrüstung. Es gibt den Plötzlichen Kindstod und es gibt natürlich auch eine Form von sozialer Vernachlässigung.

Wie ist denn das Bewußtsein im Westteil für diese Probleme?

Dort setzt man sich auch damit auseinander. In Kreuzberg habe ich einen Modellversuch »Betreuung durch Kinderkrankenschwestern« eingeführt. Krankenschwestern sind in die Krankenhäuser gegangen und haben ihre Beratungstätigkeit angeboten für die Zeit nach der Entlassung. Es ist ein Unterschied, ob man einmal einen Kurs gemacht hat oder tatsächlich mit einem Kind da steht. Es gibt einen riesigen Beratungsbedarf, der vor Ort ansetzen muß.

Was sind jetzt Ihre vordringlichen Aufgaben?

Das System der Freiwilligkeit muß durch entsprechende differenzierte Beratungsangebote aufgefangen werden. Das können wir im Moment noch nicht leisten. Ich finde es erschütternd, daß auch in unserem, Bezirk die Säuglingssterblichkeit steigt. Aber man kann nicht von heute auf morgen ein System umstellen. Das Vertrauen in ein freiwilliges Beratungsangebot wächst erst langsam. Interview: Jeannette Goddar