Argumente gegen reale Demokratie

■ Die Schwafel-Show »Gesehen« von Hans W. Poschen im Offenen TV-Kanal: Echte Berliner ohne Schnitt und Verstand

Dienstag, 19.30 Uhr, Fernsehprogramm des Offenen Kanals. Schon bevor die Sendung anläuft — mit einer gütigen Voraus-Längenangabe übrigens (60 Minuten) — fordert eine Schrifteinblendung auf, man möge an Herrn Hans Poschen schreiben, »P.O. Box«, Berlin 61. Dann ein stehendes, womöglich aber auch leicht wimmelndes Bunt-Bild, das den schlichten und bescheidenen Namen der Herstellerfirma dieser Sendung nennt: Worldwide Productions. Nach dem schönen Dia noch einmal das Insert; es mahnt, es fleht nunmehr schon beinahe »BITTE schreiben Sie an...« — Nichts gegens Schreiben, wozu aber ausgerechnet an diesen Mann in Berlin 61, der sich im zweiten Insert — warum? warum? — nun sogar rücksichtslos Hans W. Poschen nennt?

Die Sendung — denn so wollen wir das Produkt in Ermangelung einer präzisen Klassifizierungsidee nennen — beginnt mit einer niederschmetternden Totalen: Man sieht eine Rotte deprimierender Berliner Dumpfbolde mehrerer Altersklassen und beiderlei Geschlechts in einer 1a-Sitzgruppe hocken. Rundum das teils nachweihnachtliche, teils ganzjährige Elend mit Baum (elektrisch brennend, die Kamera mittelstark blendend) Kaffeetassen, Gläser, Pullen. Eine weiße, leicht pummelige Katze hockt dabei — die allerdings läßt Hans W. Poschen durch einen subtilen Bildtrick einmal schlagartig verschwinden und erst später wieder mittun.

Diese Berliner, schauriger als selbst Eberhard Diepgen sie wünschen kann, sitzen da herum in den grauenhaftesten Woolworth-Klamotten, mit Dauerwellen, Fusselschnurrbärten und anderen Entsetzlichkeiten. Ein etwa zehnjähriges Kind — es scheint geistig nicht vollkommen auf der Höhe zu sein — kräht fortwährend dumm und plump und dreist dazwischen und wird rüde zusammengeschnauzt, sobald das notdürftig memorierte Arsenal der Schwarzen Pädagogik Gelegenheit dazu gibt: »Halt deine Hand vorm Mund!«

Nach einem bescheidenen Warming-up wird minutenlang irgendein klebrig-schaumiges Getränk eingegossen, allerlei launige Bemerkungen fallen dabei ab. Zwischendurch zeigt eine Fernseh-Kamera kurz einen Moderator, der irgend etwas von »Heute wieder bei Hempels unterm Sofa« deliriert, dann aufsteht und rausgeht — auf die Kamera zu, versteht sich, sie beinahe rempelnd und das Fernsehbild jedenfalls momentweise zu zwei Dritteln komplett verfinsternd.

Dann mitten rein ins Leben der in diesem Fall leider nicht schweigenden Mehrheit! Die Idee dieser Sendung vom großen H.W.P. ist einfach: Ein paar Hanseln beiderlei Geschlechts reden, vollkommen unkontrolliert und ungeschnitten, vor laufender Kamera und mit nur äußerst mühselig verständlichem Ton all das, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie haben sämtlichst die Art von Wichtigtuerei, von sturer Beharrlichkeit und insistierender Lautstärke, die wir von Neuköllner Eckkneipen-Deliranten kennen (»Ick sare noch ßu Pauel, Pauel, sarick, laß die Finger davon! Haaick jesacht!«)

Zu sagen haben diese fremdartigen Menschen nichts; oder, genauer gesagt, all das, was man vor etwa zwei Jahrzehnten, als man noch aus ideologischen Gründen an die Pfiffigkeit des Proleten glauben mußte, für »Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge« hielt. Sie wissen, daß die Großen groß sind und klein die Kleinen; sie wissen, daß die Großen alles dürfen und die Kleinen nüscht. Fertig. Sie sagen unablässig »Wennick ma janz ehrlich sein sollte« oder »Auf jut deutsch jesacht« oder auch »Det sarick hier janz offen« — man kennt diese Beteuerungsformeln. Fast ausschließlich von Leuten, die nichts mitzuteilen haben.

»Wattick damit saren will, du als kleener Mann kannst Dir Sachen jahnich erlauben, wie wenn du'n bekannta Mann wärst!« Das ist es, natürlich! Diese redseligen Kleingeister verwechseln Macht mit Prominenz, bilden sich womöglich ein, durch ihr Erscheinen in diesem jämmerlichen Fernsehprogramm »bekannt« und damit »groß« zu werden. Sie reden und wissen nicht, was. Sie sind wahrlich Low Life, wie es sich kein grobes und feindseliges Klischee auch nur annähernd trübe einfallen lassen könnte. Die Kamera schwenkt mit verzweifelter Beharrlichkeit auf diesem Grauen hin und her, gerade so, als dürfe sie hoffen, irgendwo in dieser Sitzgruppe womöglich Besseres oder auch nur Ansehnlicheres zu finden.

Mitten in der geistverlassenen Lallerei kommt immer wieder, als geläufige Chiffre für Unbegriffenes, »Kohl« vor. Der eine führt aus: »In Halle wurde Kohl doch anjejriffen« — Der andere, der am meisten redet, gibt schnell, blitz-dumm und gleißend alkoholselig zurück: »In welscher Halle denn?« Der gleiche Mann hat kurz darauf vorzutragen, »im Osten« habe man ja nun »neunzisch Proßent Arbeitslosigkeit«. — »Hier doch ooch« kontert sein Gegenspieler, wird allerdings sofort zurecht- und in die Schranken gewiesen. Man kommt, nach etwa zwölf Minuten, zum Kern des Deutschlandproblems: »Da hamse nu die Rejierung drüben abjeschafft, nu wernse anjepaßt, trotzdem se jahnich die wirtschaftliche Lare daßu hahm!«

Natürlich kommen auch die geballten Ressentiments und Sozialängste hoch, man wünscht sich die Mauer (»nur ßwee Meta höher«) zurück und gibt das eigene traurige Vernageltsein als Mehrheitsmeinung aus: »Der Westbürjer, da isn minimaler Proßentsatz von, der die Mauer fallen lassen wollte!« Wer all das ein Weilchen durchsteht am frühen Abend, der wird sich hirnrümpfend an Brechts blöde »Radiotheorie« erinnern, in der von Demokratisierung des Rundfunks die rührende Rede ist. So sieht das aus, Brecht, wenn das Volk spricht. Wie bei Hans W. Poschen, nicht anders! Die Leute, denen wir damals Linken angeblich zur Macht verhelfen wollten (und die die meisten von uns doch in Wahrheit herzlich verachteten!), diese »kleenen Leute« sind »ßu einem maximalen Proßentsatz« denkfaul, vorurteilsprall, dazu nicht weniger ekelhaft eitel als viele Intellektuelle inclusive der Medienmenschen.

Sie schnappen unwürdig, peinlich, sich selbst demütigend nach jeder Möglichkeit, im Fernsehen herumzuschwatzen — und liefern damit allerdings gewichtige Argumente gegen reale Demokratie. Es ist nur sehr kurzfristig komisch, sich das anzusehen. Es ist auch schwer begreiflich, warum der Offene Kanal anscheinend durch seine Statuten gezwungen ist, Leuten ein Forum zu geben, die nicht einmal den Schwachsinn der 'Bild‘-Zeitung annähernd verarbeiten können. Ich selbst habe unter Aufbietung enormer Energien 16 von 60 Minuten durchgehalten. Das sind 26,6 Prozent. Ich wäre gern naiv genug zu hoffen, daß nur 26,6 Prozent der Bevölkerung so denken und reden. Klaus Nothnagel