Der Geist und die Baustelle

■ Während Eberhard Diepgen in einer Fünferrunde den »Offensivgeist« und »Visionen« für Berlin beschwor, interessierte sich das Publikum weit mehr für konkrete Fragen der Verkehrspolitik

Berlin. Nicht den Geist, der stets verneint, geschweige denn die Geister, die man rief und nun nicht los wird, sondern den Offensivgeist, den Berlin brauche, beschworen fünf Visionäre auf Einladung der Berliner Landesgruppe der CDU-Bundestagsfraktion am Dienstag abend im Reichstag. »Der Geist wird entstehen, und der wird zusammenhängen mit konkreten Baustellen«, sprach unser Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen, und: »Unsere Vision ist eine lebendige Metropole in einem zusammenwachsenden Europa« (oder war es umgekehrt?). Darin stimmte ihm der SPD-Frakionsvorsitzende Ditmar Staffelt zu, nur der Weg dorthin sei die Streitfrage. Aber Diskussionen gehörten zum Geist der Stadt.

»Resignation ist der Egoismus von Schwächlingen« trug Matthias Kleinert, Generalbevollmächtigter von Daimler Benz zur Diskussion bei. Er bot Olympia 2000 als Produkt eines kreativen Zusammenwirkens von Politik und Wirtschaft als seine Vision auf. Hermann Rudolph, Chefredakteur des Tagesspiegel, verzichtete ganz auf eine eigene Vision. Auch der Senat habe zuviel zu tun, um Visionen zu entwickeln, besser sei es, eine Art »Generalstab des Offensivgeistes« vergleichbar dem Stadtforum einzurichten, schlug Rudolph vor.

Georg Gafron, Chefredakteur des Senders 100,6, schließlich schwelgte mehr in Bildern denn in Visionen. Berlin sei ein Schiff, vormals im Schlepptau größerer Kähne, nun aber auf sich gestellt in schwierigen Gewässern und zudem mit einer Anzahl Schiffbrüchiger an Bord, die man von einer Insel namens Ostberlin aufgelesen habe. Der Senat sei die Führungscrew, die das Schiff an Untiefen vorbei führe und dafür sorgen müsse, daß die Mannschaft weder anSkorbut leide noch die Vorräte vorfristig aufgegessen würden. Allerdings habe er — Gafron — den Eindruck, daß sich derzeitig die Diskussionen in der Führungscrew vor allem darum drehten, ob man in der Schiffskantine die leeren Milchflaschen vorne oder hinten abgeben solle. »Wenn ich in zehn oder fünfzehn Jahren aus der Politik gehe, möchte ich Journalist werden«, giftete daraufhin der Regierende gegen den treulosen Vasall, »dann kann ich nach Lust und Laune kommentieren, ohne daß es Konsequenzen hat.« Presseschelte auch im Publikum: Eine Zeitung wie der Tagesspiegel, die am liebsten das Lenindenkmal in den eigenen Hof gestellt hätte, trage nicht zum Offensivgeist der Stadt bei, rügte ein junger Blondschopf.

Anschließend begab sich Diepgen in die Niederungen der Verkehrspolitik, für die sich das circa 300köpfige Publikum deutlich mehr interessierte als für irgendwelche Visionen. Es müsse Durchgangsstraßen geben statt Sackgassen, die an der Mauer endeten, aber auch eine Parkraumbewirtschaftung in der City. Den Individualverkehr müsse man zurückdrängen, aber die Ideologisierung der Verkehrspolitik, wie etwa Tempo 30, lehne er ab. Und für das Brandenburger Tor seien die Erschütterungen durch die U-Bahn viel schlimmer als durch Autos.

Übrigens hatte der Regierende, wie der sichtlich gelangweilte Kleinert enthüllte, am selbigen Morgen eine Sendung bei der 100,6-Konkurrenz RTL plus moderiert. 100,6 dürfe nun Diepgen kommentieren, bot Gafron an, woraufhin Staffelt als kleinerer Koalitionspartner das gleiche Recht für sich verlangte.

Bleibt nur die Frage: Wo ist eigentlich eine U-Bahn unter dem Brandenburger Tor? Eva Schweitzer