Und abermals röhrte der Hirsch

Botho Strauß hat wieder ein Buch geschrieben  ■ Von Willi Winkler

Wenn die Sonne der Kultur untergeht, hat der Apokalyptiker Karl Kraus einmal gesagt, werfen auch die Zwerge lange Schatten. Nun geht die Sonne schon länger als seit Menschengedenken und die Kultur beinah ebenso lang unter, doch noch nie war dieser Niedergang so wertvoll wie heute. Natürlich hat davon auch Botho Strauß läuten hören und belästigt uns daher immer mal wieder mit seinen endzeitlichen Reflexionen. Jener Botho Strauß, dem, wir erinnern uns, vor geraumer Zeit zustieß von allen das unverhoffteste Wort: Kelchschaft, hat sich offenbar von diesem Zusammenprall, die Zeitungen waren seinerzeit voll davon, noch immer nicht erholt.

Wie anders auch wäre seine Heimkunft in den katholischen Mystizismus (oder jedenfalls zu dessen härenem Bußprediger George Steiner) zu deuten, deren wir im Jahr des Herrn 1990 gewissermaßen Kelch an Kelch Zeuge werden durften. Gleichwohl scheint Botho Strauß noch immer des inneren Friedens zu ermangeln, denn schon wieder hat er seinem Verleger Michael Krüger ein Bündel Reflexionen, diesmal über Fleck und Linie, aufgenötigt. Seufzend hat der Hanser-Verlag die Notate binden und das bislang unerhörte Wort Beginnlosigkeit als Titel drüber setzen lassen. Im März schon soll es die ständig schwindende Schar der Strauß-Anhänger erreichen.

So lange wollen wir unsere Leser allerdings nicht darben lassen. Wir haben das Manuskript vorab zur Begutachtung an zwei Konfidenten weitergereicht und uns ausbedungen, ihren sich anschließenden Diskurs über das neueste Straußsche Menschenwerk aufzeichnen zu dürfen. Die Szene ist ein (deutscher) Waldrand vor dem Morgengrauen. Auf einem Ansitz zwei Männer, die ihre Gewehre vor sich auf der Querstange liegen haben. Das sind unsere Vertrauensleute: der alte Oberförster und sein treuer Jagdgehilfe.

Alter Oberförster: Ja, ja.

Treuer Jagdgehilfe: (schweigt)

Eine Viertelstunde vergeht. Drunten, wo sich die Wiese zum Bach hinab senkt, bricht eine Hindin aus dem Unterholz und trifft Anstalten, sich am kühlen Naß zu laben.

Treuer Jagdgehilfe: „Die Worte in eines Munde sind wie tiefe Wasser, und die Quelle der Weisheit ist ein voller Strom“, Buch der Sprüche.

Alter Oberförster: Wo die Idee der Einfachheit in Stücke fällt und wir in jeder Richtung auf Komplexität stoßen, haben es die Weltanschauler und Weltbildfanatiker leicht, für ihre rasch verderbliche Ware Opfer zu finden, Buch der Beginnlosigkeit.

Treuer Jagdgehilfe: (schweigt)

Eine weitere Viertelstunde vergeht. Im Frühtau tollen zwei Hasen. Ein Igel versucht das Bild von links nach rechts zu durchqueren.

Alter Oberförster: Heute ein neues Weltbild in der Physik, morgen ein neues Menschenbild in der Neurobiologie, übermorgen die Auflösung der Erde in einem neuen Erkenntnisraster der Geologie...

Treuer Jagdgehilfe (einfallend): ...unter dem Mikroskop der Gegenwart vervielfältigt sich die Welt mit einer Geschwindigkeit, die Hören, Sehen und Denken auf die Probe stellt.

Ein seltsames Röhren erfüllt die Luft.

Alter Oberförster: Gib doch mal das Fernrohr der Gegenwart, ich glaub, da kommt er.

Treuer Jagdgehilfe: Wer? Der Botho Strauß?

Alter Oberförster: Ach was, das Fernrohr gib!

Drunten hat eben ein prächtiger Achtzehnender die noch vom Tau benetzte Wiese betreten, röhrt kurz, aber eindrucksvoll und beginnt friedlich zu äsen. Aus der Ferne weht das morgendliche Ave Maria der Glocken von Westerholzhausen herüber. Der stattliche Hirsch verhofft andächtig für eine Sekunden, öffnet schon den Mund, überlegt es sich dann offenbar doch anders und äst weiter. Der Igel, er hat inzwischen die Bühnenmitte erreicht, sucht dies mächtige Hindernis zu umgehen.

Alter Oberförster (der die heilige Szene durch das Fernrohr beobachtet hat und ebenfalls von andächtiger Rührung ergriffen wird): Muß schiffen. (Er steigt vom Ansitz herunter und kehrt dann dem Zuschauer den Rücken zu.)

Treuer Jagdgehilfe: Was heißt das für einen Schriftsteller, der sich dieser Gegenwart aussetzen und nicht ausweichen will in alte Geschichten?

Alter Oberförster (nachdem er wieder nach oben gekraxelt ist): Botho Strauß hat in diesem Buch — sakradi, gleich fällt's mir wieder ein — also hat in diesem Buch die Herausforderungen der modernen Wissenschaften auf das Schreiben und Denken, auch das eigene, bezogen.

Treuer Jagdgehilfe (fällt seinem Herrn ins Wort und bildet mit dem Alten Oberförster zusammen einen Dachauer Zwiegesang): So ist ein Buch des Nachdenkens entstanden, eine Sammlung von Überlegungen, die das Komplexe nicht auf den Begriff, sondern zur Entfaltung bringen will.

Der majestätische Hirsch läßt nun alle Bedenken sein und brüllt aus Leibeskräften. Der Igel hat inzwischen das wütende Tier umrundet und macht sich, in höchstem Maße verwirrt, wieder zum linken Bildrand auf. Die Hindin wirft dem Hirsch bambibewimperte bis grob begehrliche Blicke zu.

Alter Oberförster: Ja, ja, der Botho Strauß!

Treuer Jagdgehilfe: Beginnlosigkeit — ein Titel, der auf der Zunge zergeht wie ein Gedicht (schnalzt genießerisch).

Alter Oberförster: Wenn es um die gegenwärtige Krise geht, geht doch nichts über meinen Botho, nichts über ein klares Wort zur rechten Zeit. Drauf einen K...

Doch ehe der alte Oberförster das Wort Kelch aussprechen konnte, zerriß ein Donner die morgendliche Andacht. Der Oberförster ward wie vom Blitz niedergestreckt. Eben ging prächtig die Sonne auf, und der treue Jagdgehilfe konnte im schmerzlichen Aufblicken gerade noch sehen, wie der Hirsch drunten auf seiner Weide das Repetiergewehrt im zottigen Bauchfell barg. Als wenn von nichts die Rede wäre, äste das Tier friedlich weiter. Der Igel hatte den linken Bildrand erreicht und kippte dort in die Tiefe, die Hindin gab ihre Lockversuche auf und verzog sich in den Wald.

Was aber lernen wir daraus?

Treuer Jagdgehilfe (der die Trauer über das jähe Hinscheiden seines Herrn offenbar schnell überwunden hat): Ich bleib lieber bei meinem Ganghofer!

P.S. Die Zitate stammen aus dem Prospekt des Hanser-Verlages. Und ja, noch eins: Das neue Buch von Botho Strauß heißt wirklich Beginnlosigkeit.