Kopfjäger

Der Versuch, die „South Bronx Hall of Fame“ nach Rotterdam zu verpflanzen  ■ Von Jochen Becker

Der weiße Absolvent für Malerei an einer Kunstakademie, John Ahearn, und der puertoricanische Madonnenmodellierer Rigoberto Torres stellen seit 1979 gemeinsam Negerplastiken her. Dazu treten sie nicht — wie noch ihre europäischen Maler- und Bildhauerkollegen zu Beginn des Jahrhunderts — eine lange Reise nach Nordafrika an, sondern begeben sich in ihr Atelier in die South Bronx. Im Unterschied zu den fernreisenden Fauvisten behauen sie weder Stein noch Holz, um ihre Plastiken herzustellen, sondern bedienen sich moderner Materialien wie Gipsbandagen oder Fiberglas. Außerdem unternehmen Ahearn und Torres nicht den Versuch, Stilmittel der fremden „Wilden“ zu imitieren, sondern formen ihre lebendige Nachbarschaft maßstabsgerecht ab. Schließlich wurden die Trophäen nicht in fremde Länder gebracht, sondern hängen nach Fertigstellung an den Innen- und Außenwänden der Wohnungen ihrer Vorbilder.

Nach einer Arbeit als Filmmaskenbildner, die er durch plastische Abformung seiner Freunde künstlerisch fortführte, zog Ahearn Ende der siebziger Jahre in die zehn Meilen nördlich vom Galerienzentrum SoHo gelegene Süd-Bronx. Im „Fashion Moda“, einem alternativen Ausstellungsraum mit großer Schaufensterfront, trifft der damals 28jährige beim „public casting“ — also der Suche und Abformung neuer Modelle — auf den neun Jahre jüngeren Torres. Kurze Zeit später arbeiteten die beiden zusammen, wobei sie sich gegenseitig in die fremde Sphäre des anderen — also Kunstwelt bzw. farbige Nachbarschaft — einführen. Obwohl beide Atelier, Technik und Präsentationsform teilen, sind ihre Arbeiten individuell gestaltet und namentlich gekennzeichnet: Während Torres seine Abgüsse recht naturalistisch coloriert und die Unebenheiten egalisiert, trägt Ahearn mit grobem Pinsel die oftmals leicht violet- bis grünstichige Farbe auf. Dieses expressivere und malerische Vorgehen verleiht den künstlerischen Personen mehr Lebendigkeit als Torres puppenhaftere Gestaltung, der sein Handwerk in der Heiligenfiguren- Manufaktur des Onkels erlernte und dort Märtyrern rote Wunden aufmalte. Beide orientieren sich beim Einfärben der milchigen Abgüsse an Polaroids der Modelle, wobei jedoch das eine Exemplar ein rotes, das andere ein gelbes Kleid erhalten kann. Im Unterschied zu den viel realistischer wirkenden Menschkopien von Duane Hanson — dieser kauft den Modellen ihre echte Kleidung ab, zieht sie den Figuren über, und drückt richtiges Haar in die plastische Kopfhaut — ist bei Ahearn und Torres alles, von der Hose über die Frisur bis zum Hüpfseil aus einem Guß. Im Unterschied zu Hanson kommen die Originale eher gut weg.

Nach halbplastischen Köpfen mit mehr oder weniger Schulteransatz erweiterten sich die Dimensionen auf ganze Figurengruppen an Brandmauern oder neuerdings in Bronze gegossene Vollplastiken für einen Park. Die lebensgroßen Figuren sind gekennzeichnet durch Beigaben wie Hund, Besen, Basketball, Gipsarm oder Einkaufstasche, und durch sozial korrekte Modeaccessoires wie Nike-Schuhe, Kapuzenpulli, Kettchen oder Tätowierung bestimmt. Obgleich diese Merkmale den eigentlichen Personen abgeschaut sind, wirken sie zeichenhaft und typisierend. Ahearn/Torres arbeiten nicht als Dokumentaristen: „Es ist eine Kunst, die sagt: ,Du existierst‘“, bemerkt Michael Ventura im Katalog des Contemporary Arts Museum Houston, der die Ausstellungstournee auch nach Rotterdam, Cincinatti und Honululu begleitet.

South Bronx Hall of Fame nennt Ahearn seine Sammlung in Anlehnung und als Ergänzung seiner nahegelegenen „Ruhmeshalle der Großen Amerikaner“: Im betagten Skulpturengang des Bronx Community College stehen knapp hundert Büsten würdevoller, dabei allesamt weißer Männer. Hoch oben an den Brandmauern und in den Wohnungen der Süd-Bronx sieht man demgegenüber einen Latino mit Kippe im Mund, oder eine schwarze „Mami“ lehnt sich aus dem ebenfalls modellierten Fenster. Ahearn und Torres stellen die Figuren, die nach ihren Vornamen betitelt sind, oftmals mit Gegenständen aus ihrer Arbeitswelt in Verbindung. So steht ein Mexikaner vor einem Schnapsregal, ein Bäcker balanciert ein Backblech, oder der korpulente Pedro trägt einen Autoreifen.

Die beiden street worker arbeiten in einem Stadtteil von New York City, der als sozialer Brennpunkt auf der Schnittstelle von Crack, Aids und Armut gilt. Hier bekämpfen sich schon lange nicht mehr nur Farbige und Weiße, sondern auch Hispanics, Afroamerikaner und Asiaten untereinander. Andererseits finden sich dort noch Reste quasidörflicher Nachbarschaften inmitten der selbstbewirtschafteten Kleinstbetriebe, Kramläden, Sozialstationen und Parks. Hierhin reist man aus dem benachbarten Manhattan höchstens zu Baseball-Spielen im Yankee-Stadion an. Und weil gespart werden muß, hatte im Sommer das Bronx Museum, einzige städtische Ausstellungsinstitution in der Gegend, jeden Tag nur von 10 bis 12 Uhr geöffnet.

Das Atelier von Ahearn/Torres fungiert als öffentlicher Aufenthaltsraum und Treffpunkt; Ausstellungseröffnungen werden als block parties mit den umliegenden Bewohnern gefeiert, welche sich zumeist dort verewigen ließen. Als Gegenleistung fürs Modell-Liegen gibt es einen kostenlosen Abguß von sich selbst; ein zweites Exemplar wird an Sammler, Galeristen oder Museen veräußert. Ginge man durchs Viertel, würde man die Personen wiedererkennen, deren Abformung nun vielleicht im Aachener Museum Ludwig hängen — sollten sie noch leben.

Im Museum wirken die Abgüsse der Hispanics und Afroamerikaner wie fremde Mumien. Die Präsentation im Rotterdammer Witte de With führt diese Auslöschung des Natürlichen deutlich vor Augen: Zwischen den weißgekalkten Wänden und unter dem Neonlicht eines Gewerbegebäudes, welche auf zwei weitläufigen Stockwerken das junge Zentrum für neue Kunst beherbergt, fühlt man sich in eine Mischung aus Leichenschauhaus und Völkerkundemuseum versetzt, die Betrachtung wird zum Voyeurismus. Zwischen den Installationen vor Ort — einige Fotodokumente liegen in Schaukästen aus — und der Präsentation im Kunstschauhaus ist jede Verbindung abgerissen.

In Rotterdam simulieren Ahearn/ Torres das Prinzip der Nachbarschaft als Kurzbesuch und formen für die Rotterdamer Retrospektive auch Bewohner des Galerienviertels in der Witte de Withstraat ab. Dort hängen nun zwei Personengruppen an Häuserwänden, während drei unbemalte Polyester-Mädchen unterm Regenschirm im Foyer des Ausstellungshauses verbleiben.

Die Ausstellung South Bronx Hall of Fame im Rotterdamer Witte de With mit Arbeiten von John Ahearn und Rigoberto Torres schließt am 26.Januar.