Äthiopien zwischen Hoffnung und Unsicherheit

Ein halbes Jahr nach dem Sturz der sozialistischen Regierung bleibt die Lage verworren/ Ethnische und religiöse Spannungen/ Autonomieforderungen weiter umstritten/ Lebensbedingungen haben sich unter dem neuen Regime eher noch verschlechtert  ■ Aus Addis Abeba Bettina Gaus

Der „Platz der Revolution“ in Addis Abeba heißt jetzt wieder wie zu kaiserlichen Zeiten „Maskal Adbabye“— aber was sonst hat sich geändert seit dem Sturz der sozialistischen Regierung von Mengistu Haile Mariam vor gut einem halben Jahr? Im Informationsministerium arbeiten dieselben Beamten wie früher. JournalistInnen müssen dieselben Formulare für ihre Akkreditierung ausfüllen. Nach wie vor bedürfen Reisen ins Landesinnere einer Genehmigung. Bei politischen Bemerkungen senkt der Sprecher die Stimme. Alles wie gehabt?

In einem Seminarraum der Universität sitzen äthiopische WissenschaftlerInnen und UmweltschützerInnen zusammen mit VertreterInnen ausländischer Hilfsorganisationen. Ein Netzwerk mit dem Ziel verbesserten Umweltschutzes soll entstehen. „Das ist toll hier. Vor sechs Monaten wäre eine solche Begegnung überhaupt nicht möglich gewesen“, freut sich Reinhard Fichtl vom Deutschen Entwicklungsdienst. „Da wären wir hier alleine gesessen.“ Demokratie im Aufwind?

Nichts ist eindeutig in diesen Tagen in der äthiopischen Hauptstadt. Fest steht nur: Viele Hoffnungen sind seit der Machtübernahme der „Revolutionären Demokratischen Front des äthiopischen Volkes“ (EPRDF) enttäuscht worden. Die Lebensbedingungen der Bevölkerung in Addis Abeba haben sich nicht verbessert, sind vielleicht noch schwieriger geworden. Die Nahrungsmittelpreise sind nicht gefallen, obwohl doch nun die Transportwege aus den fruchtbaren Gegenden in die Hauptstadt nicht mehr durch den Krieg behindert werden. Die Zahl der BettlerInnen, vor allem die bettelnder Kinder in den Straßen wächst.

Die Kriminalitätsrate ist sprunghaft in die Höhe geschossen, seit die äthiopische Armee aufgelöst worden ist. Fast eine halbe Million Soldaten sind arbeitslos geworden. Niemand weiß im einzelnen, wohin es sie verschlagen hat. Vor Überfällen und Diebstählen ist die Bevölkerung nicht geschützt: Es gibt weder eine Kriminalpolizei noch eine funktionierende Gerichtsbarkeit. UN-MitarbeiterInnen sollen um zehn Uhr abends zu Hause sein und sich nur in der nahen Umgebung von Addis Abeba bewegen, sofern sie in der Hauptstadt stationiert sind — diesen Rat befolgen auch MitarbeiterInnen anderer Hilfsorganisationen.

Denn auch die Hoffnung auf Frieden hat sich nicht erfüllt. Im Osten des Landes wird gekämpft, der Süden Äthiopiens ist nicht sicher. In der Charta, die Grundlage für die Politik der Koalitionsregierung in Addis Abeba ist, wird jeder „Nationalität“ das Recht der Entfaltung bis zur Unabhängigkeit zugestanden. Das Selbstbestimmungsrecht der verschiedenen Völker Äthiopiens hat aber bislang ethnische Konflikte nicht entschärft — im Gegenteil. „Alle träumen jetzt hier von Großreichen. Und irgendwann in der Geschichte hat es ihnen auch allen mal gehört“, sagt ein Beobachter.

Ob sich die Auseinandersetzungen in den letzten Monaten tatsächlich zugespitzt haben oder ob nun lediglich Spannungen sichtbar werden, die in der Diktatur unterdrückt worden waren, ist ebenso eine Frage der persönlichen Einschätzung wie die Diskussion darüber, ob es sich bei den jüngsten bewaffneten Zusammenstößen um vereinzelte Unruhen oder um den Beginn eines neuen Bürgerkrieges handelt. Die EPRDF ist mit ihren rund 60.000 Mitgliedern nicht in der Lage, das ganze Land zu kontrollieren. So ist die Selbstverwaltung jedes Volkes, die sich an Sprachgrenzen orientiert, auch ein Versuch, die Probleme jenseits aller Ideologie pragmatisch zu lösen. Aber die Lage ist verworren: Zum ethnischen gesellen sich religiöse Konflikte. So fühlen sich Moslems vom Volk der Oromo im Unruhegebiet um die Stadt Harrar nicht ausreichend repräsentiert. Bruderkampf: Insgesamt sind die Oromo, die größte ethnische Gruppe Äthiopiens, in sechs Fraktionen gespalten.

Und viele ÄthiopierInnen lehnen Autonomiebestrebungen ohnehin ab. Die bislang privilegierten Amharen empfinden die meist tigraischen EPRDF-Kämpfer als Besatzungsmacht. Der öffentliche Dienst ist fest in amharischer Hand, noch immer, denn die EPRDF verfügt nur über wenig qualifiziertes Personal, das imstande wäre, eine Millionenstadt zu verwalten. Wie viele der Gerüchte treffen zu, denenzufolge der Beamtenapparat absichtsvoll Maßnahmen der Regierung sabotiert? „In meinem Büro wollen amharische und tigraische Mitarbeiter, die fünf Jahre zusammengearbeitet haben, plötzlich nicht mehr in einem Raum sitzen“, berichtet der Leiter einer kirchlichen Organisation. „Früher war es ein Kampf der Armee gegen eine Rebellenbewegung, jetzt kämpft Nachbar gegen Nachbar.“

Demonstration folgt auf Gegendemonstration in Addis Abeba. Auf einer Kundgebung der Oromo wird die Forderung laut, das Denkmal des abessinischen Kaisers Menelik abzureißen — ein Symbol amharischen Stolzes würde damit vom Sockel gekippt. TeilnehmerInnen einer anderen Kundgebung fordern nachdrücklich die Einheit des Landes — vor allem der Weg Eritreas in die Unabhängigkeit sorgt hier für böses Blut.

Solange ein großer Teil der Bevölkerung wirtschaftliche Not leidet, lassen sich Spannungen und Frustration schwer abbauen. Äthiopien braucht dringend Hilfe. Die Koalitionsregierung hat jüngst die Richtlinien einer neuen Wirtschaftspolitik beschlossen. Darin wird der Abschied vom früher propagierten Marxismus festgeschrieben, sie bleiben dennoch hinter den Erwartungen vieler Geberländer und -organisationen zurück. Nach wie vor plant die Regierung, Einfluß auf den Marktpreis für landwirtschaftliche Produkte zu nehmen. Die bedeutendsten Industriezweige sollen auch weiterhin vom Staat kontrolliert werden.

Westliche WirtschaftsexpertInnen und Diplomaten zeigen sich im Gespräch häufig verständnisvoll: Die Koalitionsregierung brauche für ihren politischen Kurswechsel wohl noch etwas mehr Zeit. Man rechne mit einer Nachbesserung des Entwurfs. Es sei jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung. In den nächsten Wochen wollen Internationaler Währungsfonds und Weltbank mit der Regierung verhandeln. Eine gemeinsame Finanzhilfe verschiedener Geber in Höhe von 500 Millionen Dollar ist im Gespräch. Für die weiche Linie des Westens gibt es einen einfachen Grund: „Irgend eine Alternative zur Regierung von Präsident Meles Zenawi ist nirgendwo in Sicht“, sagt ein Diplomat.