ÖTV geht selbstbewußt in Tarifkonflikt

Polemiken der Politiker mobilisieren die Gewerkschaftsbasis/ Möllemanns Vorschläge liefen auf eine Reallohnsenkung hinaus/ Wulf-Mathies will „Mauer“ aus Regierung und Bundesbank durchbrechen  ■ Von Martin Kempe

Esslingen (taz) — „Die Reihen gewerkschaftlicher Solidarität sind fest geschlossen.“ Diese frohe Botschaft verkündete gestern die Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) vor Journalisten in Esslingen. Angesichts der hitzigen öffentlichen Polemiken im Vorfeld der Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst demonstriert die Gewerkschaftsvorsitzende zum Jahresauftakt Gelassenheit und Selbstbewußtsein. Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP), der durch eine vorweggenommene niedrige Erhöhung der Beamtenbesoldung Druck auf die Tarifverhandlungen ausüben will, wird nach Meinung der ÖTV-Vorsitzenden scheitern. Schon sein Parteivorsitzender Graf Lambsdorff habe sich in seiner Zeit als Wirtschaftsminister mit ähnlichen Vorstößen als „Bruchpilot der Tarifpolitik“ erwiesen. Nun solle sich Möllemann „rechtzeitig auf den Absturz vorbereiten“.

Starke Worte der ÖTV-Vorsitzenden, deren Organisation in diesem Jahr mit einer linearen Forderung von 9,5 Prozent in die Tarifauseinandersetzung geht. Anfang Februar beginnen die Verhandlungen, die durch die Diskontsatzanhebung der Bundesbank noch einmal verstärkt unter Druck genommen worden sind. Die Höhe der Forderung begründet die Gewerkschaft mit der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren, mit den vierprozentigen Preiserhöhungen, den gestiegenen, politisch bedingten Abgabenerhöhungen (Solidaritätsabgabe, Erhöhung der Beitragssätze bei der Arbeitslosenversicherung).

Eine vierprozentige Einkommensanhebung, wie sie von Möllemann, der Bundesbank und den führenden Wirtschaftsinstituten propagiert wird, bedeutet nach Wulf-Mathies real einen Einkommensverlust von einem Prozent.

Die Gewerkschaften stehen, darüber ist sich die ÖTV-Vorsitzende klar, 1992 unter einem größeren Druck als zuvor. Der jahrelange Aufschwung neigt sich dem Ende zu. Die durch die deutsche Einheit bewirkten Belastungen für die Haushalte des Bundes und der Länder wirken unvermindert weiter. Heftig kritisiert Wulf-Mathies aus diesem Grunde die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ bei Bund und Ländern. Und die geplanten Steuererleichterungen für die Unternehmer hält sie für unverantwortlich. Andererseits plädiert sie durchaus für eine Fortsetzung des Solidaritätszuschlages, der nach den Plänen der Bundesregierung Mitte des Jahres entfallen soll. Dies sei ihre Antwort auf die Forderung nach „Teilen“ zwischen den Arbeitnehmern in West und Ost.

Die Gewerkschaft begnügt sich in diesem Jahr mit einer reinen Prozentforderung. Die Beschäftigten in Ostdeutschland sind inzwischen über eine Prozentklausel an die Entwicklung der Westeinkommen angekoppelt, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung. Strukturverbesserungen für bestimmte, besonders belastete und unterbezahlte Bereiche wie die Krankenpflege wurden in die Forderung nicht mit aufgenommen, auch wenn sie weiterhin für nötig gehalten werden. Im vergangenen Jahr waren sie zwar nicht bei der Forderung, wohl aber beim Abschluß zu einem Gesamtpaket verschnürt worden, das den Krankenschwestern und anderen Sozialberufen deutlich überproportionale Gehaltsverbesserungen beschert hatte. In Zukunft sollen die Verhandlungen über Lohnerhöhung und Lohnstruktur wieder getrennt geführt werden.

In mancher Hinsicht kann der ÖTV-Vorsitzenden die aufgeregte Politiker-Diskussion über die angeblich unangemessenen Forderungen der Gewerkschaften nur recht sein. Denn einerseits trägt der öffentliche Wirbel darum nicht unerheblich zur Mobilisierung der Basis bei. Andererseits zwingt sie auch die anderen Gewerkschaften in die Solidarität mit der ansonsten nicht eben beliebten Organisation der Staatsbeschäftigten. Denn der fällt in diesem Jahr die zeitliche „Tarifführerschaft“ zu. Der Abschluß im Öffentlichen Dienst wird also eine Vorentscheidung darüber bringen, was 1992 für die abhängig Beschäftigten aller anderen Branchen herauszuholen ist. Es komme jetzt darauf an, so Wulf- Mathies, mit vereinten Kräften die „Mauer zu durchbrechen“, die Politik, Wirtschaft und Bundesbank gegen die gewerkschaftlichen Forderungen errichtet hätten.