Schlangengott mit Segelohren

Heidelberger Archäologen entdeckten in der Türkei die älteste Kultstätte der Welt/ Im Juli wird sie vom Atatürk-Stausee überflutet  ■ Von Dieter Balle

Harald Hauptmann macht eine wegwerfende Handbewegung. „Eigentlich eine Unverschämtheit“, murmelt er. Dabei hätte er allen Grund zur Freude. In jahrelanger, mühevoller Kleinarbeit hat der Leiter des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Heidelberg zusammen mit seiner Projektgruppe eine der wichtigsten und sensationellsten archäologischen Entdeckungen der letzten Jahre gemacht. Im kurdischen Südosten der Türkei, etwa 40 Kilometer nördlich von Urfa, haben die Heidelberger in einem Seitental des Euphrat eine nahezu 10.000 Jahre alte Kultstätte ausgegraben, die sogar Skulpturen enthielt. Hauptmann vermutet in ihnen abgebildete Gottheiten.

Mit „Unverschämtheit“ meint er die stiefmütterliche Behandlung des Projekts durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Thyssen-Stiftung und die Universität Heidelberg, die für die letzte Grabungskampagne nur 40.000 Mark bewilligt haben. Zum Glück für ihn und sein Team sind in den letzten Jahren die am Atatürk-Staudamm beteiligten Schweizer Konzerne eingesprungen und haben mit Sach- und Transportleistungen den Bestand des Lagers die Grabungen sicherstellen helfen. Hinzu kommt, daß die Archäologen zusammen mit den Studenten und kurdischen Hilfskräften einen Wettlauf mit dem langsam ansteigenden Wasser des Atatürk-Staudamms führen, weil der Grabungsort noch unterhalb des maximalen Wasserstands liegt, den der Stausee im Juli dieses Jahres erreichen wird.

Das unwürdige Gefeilsche um die Finanzierung der Ausgrabungen hat Hauptmann zermürbt. Am 22.November 1991 beendeten er und seine Kollegen ihre Ausgrabungen.

Tiermotive und Fruchtbarkeitssymbole

Auf den ersten Blick könnte der Kopf auch die Arbeit eines Künstlers sein, der einen jener als Irokesen oder Punks in unseren Straßen bekannten Zeitgenossen in weichem Kalkstein verewigen wollte. Doch weit gefehlt. Was da als überlebensgroßer Hinterkopf mit Schlangenschwänzchen und Segelohren im Keller des archäologischen Museums im südostanatolischen Urfa für eine spätere Präsentation vorbereitet wird, ist eine der ältesten bislang gefundenen Skulpturen. Sie ist mehr als 9.000 Jahre alt und in einer Nische der Kultstätte entdeckt worden.

Siedlungen aus dieser Zeit sind in der Region schon mehrere freigelegt worden, etwa am Tigris nördlich von Diyarbakir. Aber eine derart grandiose Kultstätte mit Skulpturen hat nicht nur Archäologen aus aller Welt aufhorchen lassen.

Dieser Tempel muß über einige Jahrhunderte als Heiligtum genutzt worden sein, denn wie bei einer „russischen Matroschka“, so Hauptmann, wurden drei Bauten ineinander gesetzt. Um die Reste des verfallenen Tempels ist jedesmal ein neuer errichtet worden. Bis zu den Ausgrabungen ist nicht bekannt gewesen, daß die Menschen im akeramischen Neolithikum, der nichtkeramischen Jungsteinzeit, Plastiken und Skulpturen angefertigt haben. Dieser neuentdeckte „Gestaltungswille“ hat jedoch, so der Archäologe Uwe Müller, der in Nevali Cori Material für seine Dissertation sammelt, keinen einheitlichen Stil hervorgebracht. Das Dutzend bisher gefundener Skulpturen zeigt vorrangig Tiermotive, etwa eine Eule oder einen Pelikan, aber auch Fruchtbarkeitssymbole wie die Stilisierung einer schwangeren Frau. Im ältesten Teil des Tempels wurde noch im November bedeutende Vogel-Mensch-Darstellungen gefunden, deren Entstehungszeit Hauptmann auf die erste Hälfte des 8. vorchristlichen Jahrtausends datiert. Die quadratisch angelegte, 14 mal 14 Meter große Kultstätte birgt eine weitere verblüffende Besonderheit. Sie hat einen planebenen Terazzo-Fußboden aus Kalksteinsplit und Mörtel, dessen Exaktheit an die Beherrschung von Meßgeräten denken läßt. Und das zu einer Zeit, als unsere Vorfahren im sogenannten Mesolithikum Mitteleuropas Wälder als nomadisierende Jäger durchstreift haben und an Seßhaftigkeit und Hausbau noch lange nicht zu denken war.

Im Wettlauf mit dem Wasser

In der Mitte des Tempels stand eine etwa drei Meter skulptierte hohe Stele als Träger der hölzernen Deckenkonstruktion. Sie lagert wie alle wertvollen Stücke jetzt im Urfaer Museum. Eine Restauratorin der Universität Mainz fertigt dort für das Heidelberger Institut Kopien aus Kunstharz an, da kein Original die Türkei verlassen darf.

Auf die nebem dem Tempel aus über 25 Häusern bestehende Siedlung, die Zentrum eines Stammes einer größeren Gruppe gewesen sein muß, sind die Heidelberger Archäologen bereits im Jahre 1979 gestoßen, im Zuge sogenannter Notgrabungen an all den Orten, die von den Wassermassen des Atatürk-Stausees begraben werden sollten. Auch Nevadi Cori wird dieses Schicksal nicht erspart bleiben. Das Wasser ist bereits am Fuße der Terasse, auf dem die Kultstätte liegt, angelangt. Monatlich steigt das Wasser anderthalb Meter.

Dennoch haben sich die acht Jahre dauernden Grabungsarbeiten gelohnt. Durch drei Siedlungsepochen, angefangen vom 3. Jahrtausend über die sogenannte Halaf-Zeit im 5. Jahrtausend v. Chr. bis zum akeramischen Neolithikum mit dem sensationellen Tempelfund haben sich die Heidelberger vorgegraben. Das gesamte Heiligtum haben die Heidelberger vor der Überflutung noch retten können. Die Stein für Stein abgetragene Kultstätte wird im Garten des Urfaer Museums wieder aufgebaut. Der Terrazzo-Fußboden soll im Frühjahr gehoben und nach Urfa gebracht werden. Mitte dieses Jahres wird der Stausee Nevali Cori erreicht haben und die einzigartige Stätte menschlicher Kulturgeschichte überfluten. Im Gegensatz dazu konnten die kurdischen Dörfer im fruchtbaren Euphrat-Tal nicht gerettet werden. Diese Bewohner haben ihre Heimat verloren.