Roboter statt Ausländer

Mit Rationalisierung versucht Japan, die Notwendigkeit fremder Arbeitskräfte und der Einwanderung per se zu umschiffen. Man setzt auf Bewahrung des „Kulturstaats“.  ■ VON CHIKAKO YAMAMOTO UND GEORG BLUME

Furchterregende Schlagzeilen aus alter und neuer Welt: Der Rassismus ist wiedergeboren. Ob mit den Neonazis in Hoyerswerda oder David Duke in Louisiana, ob mit den Wahlsiegen ausländerfeindlicher Parteien in Österreich und der Schweiz oder mit dem Wiedererwachen des Antisemitismus in Osteuropa: Nach Ende des Kalten Krieges feiert der Rassenhaß neue Urstände. Unter den großen Industriestaaten scheint nur ein einziges Land dies abwehren zu können: Japan. Kein Aufkommen einer rassistischen Partei, geschweige denn rassistische Gewalttaten können von hier gemeldet werden. Vielmehr zählen Japaner zu den Opfern. In Ostdeutschland überfielen Jugendbanden Dutzende Japaner, weil man sie mit den in der Bevölkerung verhaßten Vietnamesen verwechselte. In den USA mußten sich Japaner zum 50. Jahrestags des Angriffs auf Pearl Harbor wegen antijapanischer Übergriffe ängstigen.

Angewidert von der unerwarteten westlichen Barbarei lassen Nippons Politiker Hochmut erkennen: „Wie kann so etwas in Deutschland nur passieren?“ Fragen dieser Art mußte sich der deutsche Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann während seiner jüngsten Regierungsgespräche in Tokio zuhauf gefallen lassen. Möllemann: „Die Übergriffe gegen Ausländer schaden dem Ansehen Deutschlands in der Welt.“ Auf solche Bestätigungen aber hatte die japanische Politik seit Jahren gewartet: In Japan hat nun die Stunde derer geschlagen, denen auch die wenigen Ausländer im eigenen Lande schon immer zu viele waren. Im Tokioter Justizministerium ist der Chef der japanischen Ausländerpolitik, Hisashi Osawa, denn auch der Meinung: „Die deutsche Politik ist gescheitert.“ Voller Schadenfreude setzt der spitzzüngige Elitebürokrat Osawa seinen Japan-Europa-Vergleich fort: „Während Deutschland und andere Länder des Westens in den fünfziger und sechziger Jahren ausländische Arbeiter ins Land geholt haben, um das Wirtschaftswachstum zu bewältigen, hat sich Japan diesem einfachen Gedanken immer widersetzt. Unsere Politik lautete schon damals: Roboter statt Menschen. Das ist unser Erfolgsgeheimnis.“

Mit der Roboterpolitik hielt Japan seine Grenzen dicht. Neben den seit drei Generationen ansässigen Koreanern verfügten Anfang 1990 nur 49.384 Ausländer in Japan über eine gültige Arbeitserlaubnis. Demgegenüber befanden sich zum gleichen Zeitpunkt schon 220.000 Roboter im Einsatz. Während sich die Zahl der in Betrieb genommenen Roboter in Japan zwischen 1981 und 1989 von 21.000 auf 220.000 verzehnfachte, konnte sich die Zahl der im gleichen Zeitraum erteilten Arbeitsgenehmigungen für Ausländer nur verdoppeln. Die japanische Politik gibt der Rationalisierung den bedingungslosen Vorzug gegenüber der billigen Ausländerarbeit. Nicht umsonst gilt Japan als Königreich der Roboter, so der Buchtitel Frederik Schodts.

Dieses Königreich ist für Ausländer nur schwer zu betreten. Allein am Flughafen Narita bei Tokio verweigerten die Behörden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 10.186 Fluggästen die Einreise. Bisher wurden die unerwünschten Gäste noch in Hotels untergebracht. Im neuen Flughafen von Osaka ist nun gleich ein Auffanglager unter Polizeibewachung mit 200 Betten geplant.

Ein solch unfreundlicher Empfang wird in Japan natürlich niemals dem Besucher aus dem Westen zuteil. Die ungebetenen Gäste kommen aus Thailand, Malaysia, den Philippinen und Südkorea. Einmal im Landesinneren angelangt, sind sie jedoch auch dort nicht sicher. Im vergangenen Jahr ließen die japanischen Behörden die Rekordzahl von 36.264 Ausländern zwangsweise deportieren. „Für viele Ausländer“, titelte die 'New York Times‘, „wird Japan zum Land der wachsenden Vorurteile.“

Doch Vorurteile hindern die Menschen nicht am Kommen. Mit etwas List und Geschick oder mit Hilfe der japanischen Yakuza-Mafia lassen sich die Grenzbehörden austricksen. Annähernd 100.000 illegale Gastarbeiter zählt die offizielle Statistik, doch die Dunkelziffern reichen bis zu einer halben Million. Von Manila bis nach Teheran hat es sich herumgesprochen, daß in Japan Arbeitskräftemangel herrscht. „9.000 Yen am Tag!“ frohlockt Mohammed Batir*, der vor sechs Monaten als Tourist aus dem Iran nach Japan einreiste. „In ein paar Wochen verdiene ich ein iranisches Jahresgehalt.“

Wie Tausende seiner Landsleute hat Mohammed illegal Arbeit gefunden. Ein bilaterales Abkommen zwischen Teheran und Tokio erleichterte ihm die Einreise. Über Landsleute, die die Arbeit vermittelten, besorgte sich Mohammed einen Fließband-Job in einer kleinen Metallfabrik in Yokohama. Damit ist er nun vollauf glücklich: „Meine Arbeit ist sauber“, lächelt der persische Sohn eines Bauarbeiters, „und ohne Gefahr. Sogar mein Japanisch reicht schon, um ein paar Worte mit dem Chef zu sprechen.“ Doch Mohammeds japanischer Arbeitgeber muß aufpassen. Ein neues Ausländergesetz vom Juni 1990 stellt alle Unternehmer unter Strafe, die Ausländer ohne legale Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beschäftigen. Damit sind all jene klammheimlich geschaffenen Arbeitsplätze bedroht, Hunderttausende an der Zahl, auf denen schon heute Ausländer die Drecksarbeit für Nippons blühendes Wirtschaftswunder verrichten. Schleichend und auf Wegen durch die Unterwelt hat sich der Wandel im Arbeitsalltag vollzogen und widerspricht der offiziellen Rationalisierungsideologie.

Vor allem im Baugewerbe und in der metallverarbeitenden Zulieferindustrie, wo die Arbeitsmakler der Yakuza-Mafia immer noch Millionen von Tagelöhnern beschäftigen, fällt es gar nicht auf, ob Ausländer oder Japaner die Arbeit tun. Arbeits- oder Sozialverträge gibt es in dieser Subwirtschaft sowieso nicht. Wer aus Bangladesch oder Indonesien nach Japan gelangt, braucht nur morgens um fünf Uhr auf die drei großen Tagelöhnermärkte in den Slumstädten von Kamagasaki (Osaka), Sanya (Tokio) oder Kotobuki (Yokohama) zu gehen — schon bekommt er Arbeit und Lohn. Doch das schnelle Glück kann ein rasches Ende nehmen. Ob Arbeitsunfall oder Polizeirazzia: eine Versicherung gibt es für sie nicht.

„Die Diskrepanz zwischen Gesetz und Wirklichkeit“, urteilt Professor Hiroshi Tanaka, Experte für Ausländerrecht an der staatlichen Aichi-Universität in Nagoya, „ist unerträglich geworden. Ausländer begegnen dem Japaner nun täglich auf der Straße. Wenn sich aber Hunderttausende von ihnen in einer rechtlosen Lage befinden, entsteht ein soziales Pulverfaß.“

Tanakas Bedenken finden in Japan nur selten Gehör. Anfang Dezember empfahl ein Regierungskomitee für Verwaltungsreformen unter Leitung des ehemaligen Arbeitgeberpräsidenten Eiji Suzuki eine Änderung des Ausländerrechts, die ungelernten Arbeitern aus dem Ausland ein begrenztes Arbeitsrecht für zwei Jahre einräumen würde. Doch der Vorschlag stieß auf sofortige Ablehnung in allen zuständigen Ministerien. Am 1. Oktober hatte Sony- Präsident Akio Morita die „Stiftung für internationale Ausbildungskooperation“ gegründet, die jungen Interessenten aus Südostasien ein Praktikum in Japan vermitteln will. Daneben kümmern sich nur einige Bürgerinitiativen in Tokio und Osaka um die Probleme der Ausländer.

„Niemand“, klagt Professor Tanaka, „sieht heute in der Ausländerpolitik einen Regelungsbedarf. Schließlich ist das neue Gesetz erst vor einem Jahr in Kraft getreten.“ Ausländer, von denen die große Mehrzahl mit ihrem Lohn zufrieden ist, verdrängen ihre Illegalität. Die Polizei deportiert Zehntausende, läßt aber Hunderttausende gewähren. Die Unternehmer umgehen das neue Gesetz und fragen nicht nach der Arbeitserlaubnis.

Eine unheimliche Stille liegt über dem Leben der Ausländer in Japan. Das Schweigen aber hat einen tieferen Grund: Nur ausländische Arbeitskräfte könnten die japanische Gesellschaft bis zur Jahrtausendwende von ihrem Grundübel befreien — den überlangen Arbeitszeiten. Doch weil die meisten Japaner glauben, daß ihr Land stets auf sich allein gestellt war, sieht kaum jemand den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung und Ausländerdebatte.

Seit 1975 sind in Japan die Arbeitszeiten wieder gestiegen. Erst seit kurzem fordern die Gewerkschaften Arbeitszeitverkürzungen, gestehen sogar die Unternehmerverbände deren Notwendigkeit ein — doch verändern tut sich nichts. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit liegt weiterhin bei über 2.000 Stunden; schon sterben Tausende jährlich den „Erschöpfungstod“ am Arbeitsplatz, Nippons neue Epidemie. Doch Unternehmerverbände und Gewerkschaften leugnen, daß ausländische Arbeitskräfte diesen Arbeitsqualen ein Ende bereiten könnten. „Sicherlich fehlen in Japan zur Zeit Arbeitskräfte“, weicht der Abteilungsleiter für Arbeitnehmerpolitik beim Unternehmerverband Nikkeiren, Toshiki Sakamoto, aus. „Doch was würde passieren, wenn es Japan nicht mehr so gut geht? Wir empfehlen den Unternehmen deshalb, Zweigfirmen im Ausland zu gründen.“ Ebenso unberührt antwortet Toshiyuki Kato, Sakamotos Gegenüber beim Gewerkschaftsdachverband Rengo: „Im allgemeinen werden die Arbeitsbedingungen in Japan nicht besser werden, wenn man mehr Ausländer einstellt.“

Kazuaki Okabe, Verfasser eines Standardwerks über neue Formen der multikulturellen Gesellschaft in Europa und den USA, glaubt nicht mehr an die japanische Inselwelt: „Ideologische Illusionen“, warnt der Kulturwissenschaftler Okabe, „verbauen Japan den Weg in die Zukunft. Die beschäftigungsintensiven Dienstleistungsindustrien lassen sich nicht in andere Staaten übersiedeln. Roboter taugen nicht als Kellner oder Serviceberater. Alle Bürokraten und Politiker in Japan wissen das, nur wagen sie den alles entscheidenden Gedanken nicht: daß nämlich auch wir Japaner mit Ausländern zusammenleben müssen und können.“

Dem pflichtet auch Professor Tanaka aus Nagoya bei: „Vermutlich eine halbe Million Menschen leben in Japan in einem gefährlichen, rechtsfreien Raum, weil der Gesetzgeber grundsätzlich ausschließt, Ausländer als Mitglieder unserer Gesellschaft anzuerkennen.“ Alles, was in diesem rechtsfreien Raum geschieht — Menschenrechtsverletzungen an Prostituierten, Sklavenhandel der Yakuza, ungeklärte Arbeitsunfälle —, ändert nichts an der japanischen Politik. Statt dessen gefährden Ausländer nach Meinung des mächtigen Industrie- und Außenhandelsministeriums (MITI) schon heute das „soziale Gleichgewicht“ in Japan. Im Justizministerium sieht Hisashi Osawa die „Harmonie der Gesellschaft“ zerstört, falls noch mehr Ausländer ins Land kämen. Führende japanische Politiker machten nicht zufällig Schwarze und andere farbige Amerikaner für den relativen wirtschaftlichen Niedergang der USA verantwortlich. Seinen Erfolg, so glauben Nippons Regierende, verdanke Japan ausschließlich den Japanern.

Vor dem Zweiten Weltkrieg, als sich das schon damals boomende Japan auf dem Weg in die nationale Katastrophe befand, verkündeten Politiker und Unternehmer die berühmt gewordene Formel: „Von nun an kann Japan nur als ,Kulturstaat‘ fortbestehen.“ Gemeint war ein Zitadellen-Staatswesen, das den Einfluß aller fremden Kulturen ausschloß. Diese präfaschistische Idee des Kulturstaats aber hat bis ins moderne Japan überlebt. Sie könnte das Land erneut in eine Katastrophe führen: weil die Welt ein Japan ohne Ausländer gar nicht verstehen lernen kann.

*Name von der Redaktion geändert.